EuGH C-498/20
Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung der Brüssel-Ia und der Rom-II Verordnung

08.07.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

EuGH
10.03.2022
C-498/20
ZIP 2022, 646

Leitsatz | EuGH C-498/20

  1. Art. 7 Nr. 2 der Brüssel-Ia Verordnung ist dahin auszulegen ist, dass das Gericht des Ortes des Sitzes einer Gesellschaft, die die Forderungen ihrer Gläubiger nicht befriedigen kann, weil die Großmuttergesellschaft dieser Gesellschaft ihre Sorgfaltspflicht gegenüber deren Gläubigern verletzt hat, für die Entscheidung über eine Verbandsklage auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder aus Ansprüchen aus einer solchen Handlung, die der Insolvenzverwalter dieser Gesellschaft im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgabe zur Verwertung der Insolvenzmasse zugunsten, jedoch nicht namens der Gesamtheit der Gläubiger erhoben hat, zuständig ist. (Rn. 40)
  2. Die erste Frage ist nicht anders zu beantworten, wenn berücksichtigt wird, dass im Ausgangsverfahren eine Stiftung zur Vertretung der kollektiven Interessen der Gläubiger tätig wird und die zu diesem Zweck erhobene Klage den individuellen Umständen der Gläubiger nicht Rechnung trägt. (Rn. 43)
  3. Art. 8 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Hauptprozesses, wenn es seine Entscheidung, mit der es sich für diesen Prozess für zuständig erklärt hat, aufhebt, automatisch seine Zuständigkeit für die von der Interventionsklägerin erhobene Klage verliert. (Rn. 48)
  4. Art. 4 der Rom‑II-Verordnung ist dahin auszulegen ist, dass das auf eine Schadensersatzpflicht aufgrund der Sorgfaltspflicht der Großmuttergesellschaft einer insolventen Gesellschaft anzuwendende Recht grundsätzlich das Recht des Staates ist, in dem die Letztgenannte ihren Sitz hat, auch wenn das Bestehen einer Finanzierungsvereinbarung mit einer Gerichtsstandsklausel zwischen diesen beiden Gesellschaften ein Umstand ist, der eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat im Sinne von Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung aufweisen kann. (Rn. 66)

 

Sachverhalt | EuGH C-498/20

In dem Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV geht es zum einen um die Auslegung der Art. 7 Nr. 2 und Art. 8 Nr. 2 der Brüssel Ia Verordnung und zum anderen um die Auslegung des Art. 4 der Rom-II Verordnung. In Frage steht das schädigende Verhalten der BMA Braunschweigische Maschinenbauanstalt AG (BMA AG) unter Verletzung ihrer Sorgfaltspflicht zum Nachteil der Gläubiger von BMA Nederland AG (BMA NL). Die Rechtsbank Midden-Nederland (Gericht der zentralen Niederlande) ersuchte die Klärung der Rechtsfragen durch den EuGH, nachdem es einräumte, sich fehlerhaft für zuständig erklärt zu haben. Der Rechtsstreit besteht zwischen dem Insolvenzverwalter ZK der BMA NL und der BMA AG. Die alleinige Geschäftsführerin der BMA NL ist deren Muttergesellschaft, die BMA Groep BV, welche beide ihren Sitz in den Niederlanden haben. Die in Deutschland ansässige BMA AG ist die Muttergesellschaft der BMA Groep und mithin die „Großmutter“ von BMA NL.

ZK erhob im Ausgangsverfahren gegen die BMA AG eine Klage aus einer unerlaubten Handlung oder einer Handlung, die einer solchen gleichgestellt ist, die ein Insolvenzverwalter gegen einen mutmaßlich an der Benachteiligung der Gläubiger einer für insolvent erklärten Gesellschaft beteiligten Dritten erhebt, nach niederländischem Recht bekannt als „Peeters/Gatzen-Klage“. Die BMA NL wurde am 03.04.2012 für insolvent erklärt, nachdem die BMA AG deren Finanzierung Anfang 2012 einstellte. Davor, zwischen 2004 und 2011, wurden der BMA NL Darlehen über insgesamt 38 Mio. Euro von der BMA AG gewährt, was über eine in den Niederlanden ansässige Bank erfolgte. In der Finanzierungsvereinbarung wurden deutsche Gerichte für zuständig und das deutsche Recht für anwendbar erklärt. Zusätzlich bürgte die BMA AG für Schulden der BMA NL und erbrachte Kapitaleinlagen zu deren Gunsten. Nach den dem EuGH vorliegenden Informationen, reicht die Insolvenzmasse der BMA NL nicht aus, um alle Gläubiger vollständig zu befriedigen und ein Großteil der ungesicherten Forderungen entfallen u.a. auf die BMA AG. Neben vielen weiteren in Deutschland ansässigen Gläubigern, sind weitere Gläubiger der Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU ansässig. Mit seiner Klage macht ZK geltend, dass die BMA AG rechtswidrig gehandelt habe, indem sie ihre Sorgfaltspflicht gegenüber allen Gläubigern von BMA NL verletzt habe, und dass die BMA AG für den dadurch entstandenen Schaden hafte. Das sorgfaltswidrige Verhalten bestehe in der Einstellung der Finanzierung der BMA NL, sodass deren Insolvenz unvermeidlich wurde.

Das vorlegende Gericht erlaubte es der Stichting, welche die Interessen von mehr als 50 Gläubigern der BMA NL vertritt, dem Ausgangsverfahren als Streithelferin beizutreten. Während sie die Zahlung der Schulden unmittelbar an jeden Gläubiger verlangt, fordert ZK die Zahlung an die Masse von BMA NL.

Entscheidung | EuGH C-498/20

Zunächst hatte der Gerichtshof über die Auslegung des Art. 7 Nr. 2 der Brüssel-Ia VO zu entscheiden und mithin darüber, an welchem Ort in der vorliegenden Verbandsklage das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Das Gericht dieses Ortes ist dann für die Klage zuständig. Es wird darauf hingewiesen, dass diese besondere Zuständigkeit autonom und eng auszulegen sei und es auf eine besondere Nähebeziehung des Streitgegenstandes zu dem jeweiligen Gericht ankomme. Es sei davon auszugehen, dass dieser Ort der Sitz der insolventen Gesellschaft sei, da dort die Informationen über die Entwicklung der finanziellen Situation dieser Gesellschaft verfügbar seien, anhand derer das Vorliegen und der Umfang der behaupteten Sorgfaltspflichtverletzung beurteilt werden könne. Hingegen sei der Schaden der einzelnen Gläubiger der insolventen Gesellschaft mittelbar entstanden, was für die spezifische Klage des Insolvenzverwalters unerheblich sei.

Die zweite Vorlagefrage betrifft die Frage, ob die erste Frage anders zu beurteilen sei, wenn berücksichtigt wird, dass im Ausgangsverfahren eine Stiftung zur Vertretung der kollektiven Interessen der Gläubiger tätig wird und die zu diesem Zweck erhobene Klage den individuellen Umständen der Gläubiger nicht Rechnung trägt. Das Gericht hält fest, dass die verfahrensrechtlichen Privilegien der Stichting keine Auswirkungen auf die Zuständigkeit über die Klage des Insolvenzverwalters haben, da die Stichting lediglich eine Interventionsklägerin sei.

Die dritte Frage bezieht sich auf die Auslegung des Art. 8 Nr. 2 der Brüssel-Ia VO und die Frage, ob das Gericht des Hauptprozesses, wenn es seine Entscheidung, mit der es sich für diesen Prozess für zuständig erklärt hat, aufhebt, automatisch seine Zuständigkeit für die von der Interventionsklägerin erhobene Klage verliert. Dies bejahte der Gerichtshof mit Verweis auf den Zweck der Norm, Parallelverfahren und das Ergehen von in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbaren Entscheidungen zu vermeiden.

Mit seiner letzten Frage möchte das Gericht wissen, ob Art. 4 der Rom-II VO dahingehend auszulegen ist, dass das auf eine Schadensersatzpflicht aufgrund der Sorgfaltspflicht der Großmuttergesellschaft einer insolventen Gesellschaft anzuwendende Recht grundsätzlich das Recht des Staates ist, in dem Letztere ihren Sitz hat. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das vorlegende Gericht selbst zu entscheiden hat, ob es sich bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sorgfaltspflichtverletzung um eine spezifische Sorgfaltspflicht, die sich aus dem Verhältnis zwischen dem Organ und der Gesellschaft ergibt, oder, ob es sich um die erga omnes geltende allgemeine Sorgfaltspflicht handele. Lediglich eine solche allgemeine Sorgfaltspflicht fiele in den Anwendungsbereich der Rom-II VO. Sollte das vorlegende Gericht die Rom-II VO für anwendbar erklären, sei der Staat, in dem der Schaden eintritt, der Staat, in dem die insolvente Gesellschaft ihren Sitz hat, sofern bei ihr ein unmittelbarer Schaden durch die Sorgfaltspflichtverletzung der Großmuttergesellschaft eingetreten ist. Mittelbare Schäden der einzelnen Gläubiger haben für die Bestimmung des Ortes, an dem das schädigende Ereignis stattfindet, keine Bedeutung. Daran ändere im vorliegenden Fall auch das Bestehen der Finanzierungsvereinbarung nichts.

Praxishinweis | EuGH C-498/20

Der EuGH hebt im Wesentlichen zwei Punkte vor, welche bei der Auslegung der Art. 7 Nr. 2 und Art. 8 Nr. 2 Brüssel-Ia VO und des Art. 4 Rom-II VO in einem Fall wie dem Vorliegenden zu beachten sind. Zunächst kommt es für die Bestimmung des Ortes des schädigenden Ereignisses, auf den bei der insolventen Gesellschaft unmittelbar eingetretenen Schaden an. Jegliche mittelbaren Schäden sind für die Beurteilung unerheblich. Daher sollte ein Verfahren in dem Staat angeführt werden, in welchem der unmittelbare Schaden eingetreten ist, was regelmäßig der Sitz der Gesellschaft ist. Zweitens hebt das Gericht hervor, dass eine Finanzierungsvereinbarung mit einer Gerichtsstandsvereinbarung nicht zwingend zur Zuständigkeit der Gerichte des Staates führt, die die Vereinbarung für zuständig erklärt. Vielmehr muss sich insgesamt, auch mithilfe der Vereinbarung, eine engere Beziehung zu dem bestimmten Gerichtsstand ergeben.