BGH IX ZR 36/22
Unanfechtbarkeit von Befreiung von Bürgschaftsverbindlichkeit

08.04.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
07.12.2023
IX ZR 36/22
ZIP 2024, 196

Leitsatz | BGH IX ZR 36/22

  1. Erfüllt der Schuldner die von einer Bürgschaft gesicherte Hauptschuld und wird der Bürge dadurch von seiner Bürgschaftsverpflichtung frei, ist diese Befreiung von der Bürgschaftsverbindlichkeit gegenüber dem Bürgen grundsätzlich nicht anfechtbar.
  2. Für den Anscheinsbeweis, dass in dem eröffneten Verfahren die Insolvenzmasse nicht ausreicht, um alle Gläubigeransprüche zu befriedigen, sind auch die Forderungen einzubeziehen, deren Anmeldung zur Tabelle zurückgenommen worden ist, solange nicht festgestellt ist, dass der anmeldende Gläubiger endgültig auf eine Teilnahme am Insolvenzverfahren verzichtet hat oder die Forderung erlassen oder sonst nicht durchsetzbar ist.

Sachverhalt | BGH IX ZR 36/22

Der Kläger ist Verwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen der H-GmbH & Co. KG (im Folgenden auch Schuldnerin) und nimmt den Beklagten aus Insolvenzanfechtung in Anspruch. Die Ehefrau des Beklagten fungiert als Kommanditistin der Schuldnerin sowie Gesellschafterin der Komplementärin der Schuldnerin. Das Unternehmen der Schuldnerin hatte sich auf die Herstellung und den Vertrieb von Trockensubstanzanalysatoren spezialisiert, wobei der Beklagte die Idee für das Produkt lieferte. Die Schuldnerin war verpflichtet, für jedes hergestellte Produkt eine Lizenzgebühr an eine GbR zu zahlen, an der der Beklagte beteiligt war.

Der Beklagte bürgte für eine Kontokorrentverbindlichkeit der Schuldnerin gegenüber der Bank, die vor der Insolvenz beglichen wurde. Der Insolvenzverwalter erhebt Anfechtungsansprüche gegen den Beklagten, da dieser von seiner Bürgschaft befreit wurde.

Zusätzlich gewährte der Beklagte der Schuldnerin ein Darlehen, das ebenfalls vor der Insolvenz zurückgezahlt wurde. Diesbezüglich nimmt der Insolvenzverwalter den Beklagten gemäß § 133 InsO in Anspruch.
Ursprünglich wurden Forderungen in Höhe von 1,8 Mio. Euro zur Insolvenztabelle angemeldet, von denen die meisten im Laufe der Jahre zurückgezogen wurden. Zuletzt war lediglich eine Forderung in Höhe von 20 Euro zur Tabelle angemeldet, die durch das Guthaben im Massekonto abgedeckt wäre. Die Parteien streiten daher über eine mögliche Benachteiligung der Gläubiger.

Das LG Bamberg hatte der Klage in nahezu voller Höhe stattgegeben. Die Berufung des Beklagten vor dem OLG Bamberg hatte keinen Erfolg.

 

Entscheidung | BGH IX ZR 36/22

Die Revision hat Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Der BGH lehnte die Anfechtungsansprüche im Zusammenhang mit der Befreiung des Beklagten von seiner Bürgschaftsverpflichtung ab.

Der Beklagte sei wegen der Zahlung der Schuldnerin auf den Kontokorrentkredit bei der Bank nicht Empfänger einer anfechtbaren und zurückzugewährenden Leistung i.S.d. § 143 I InsO. Der Zweck des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs bestehe darin, sicherzustellen, dass ein Gegenstand, der ohne die anfechtbare Rechtshandlung Teil der Insolvenzmasse wäre, zu dem Zweck der Verwertung wieder in die Masse zurückgeführt wird. Die Verpflichtung des Bürgen sei allerdings kein ursprünglicher Bestandteil des Schuldnervermögens und demnach kein Teil der Insolvenzmasse. Rechtshandlungen, die ausschließlich das Vermögen eines Dritten betreffen, hätten keine nachteiligen Auswirkungen auf die Insolvenzmasse und die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger.

Auch eine Haftung des Beklagten unter dem Gesichtspunkt einer Doppelwirkung der Anfechtung scheide aus. Bei einer Doppelwirkung könne Insolvenzverwalter wählen, welchen Leistungsempfänger er in Anspruch nimmt, sofern die sonstigen Anfechtungsvoraussetzungen erfüllt sind. Die Fallgruppe der Gesamtschuldnerschaft käme vorliegend schon nicht in Betracht, weil Bürge und Schuldner gerade keine Gesamtschuldner für den Gläubiger darstellen. So sei beispielsweise das Freiwerden des Bürgen von seiner Verpflichtung gegenüber dem Sicherungsnehmer aufgrund der Zahlung des Schuldners die gesetzliche Folge der Akzessorietät der Bürgschaft gem. § 767 I 1 BGB.

Auch die Voraussetzungen des § 135 Abs. 2 InsO hat der BGH verneint: Der Beklagte sei weder Gesellschafter noch stehe er einem solchen gem. § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, § 135 Abs. 2 InsO gleich. Der Beklagte könne weder einen hinreichenden rechtlichen Einfluss auf die Entscheidungen der Schuldnerin nehmen noch partizipiere er in einer hinreichenden Weise am wirtschaftlichen Erfolg der Schuldnerin. Eine bloß faktische Möglichkeit, Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft zu nehmen, ist nicht ausreichend.

Hinsichtlich der Rückführung des Darlehens an den Beklagten hat der BGH dem Berufungsgericht im Ergebnis zugestimmt, dass diese Zahlungen die Gläubiger benachteiligt hätten.

Eine Gläubigerbenachteiligung gem. § 129 Abs. 1 InsO liege vor, wenn die Schuldenmasse vermehrt oder die Aktivmasse verkürzt und dadurch der Gläubigerzugriff auf das Schuldnervermögen vereitelt, erschwert, gefährdet oder verzögert wird. Erforderlich sei also, dass die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger ohne die angefochtene Rechtshandlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gewesen wären. Das sei wiederum nicht der Fall, wenn die Insolvenzmasse ohne die Anfechtung ausreicht, um alle Ansprüche der Insolvenzgläubiger zu erfüllen. Nach der Lebenserfahrung spreche grundsätzlich ein Anscheinsbeweis dafür, dass die Masse im jeweiligen Verfahren nicht für die Befriedigung aller Gläubigeransprüche ausreicht. Um diesen Anscheinsbeweis zu entkräften, müsse der Anfechtungsgegner aufzeigen, dass das Vermögen des Schuldners heute noch ausreichend ist, um alle Gläubigerforderungen zu tilgen. Einzubeziehen seien dabei auch Forderungen, deren Anmeldung zur Tabelle zurückgenommen worden ist, solange nicht festgestellt ist, dass der anmeldende Gläubiger endgültig auf eine Teilnahme am Insolvenzverfahren verzichtet hat oder die Forderung erlassen oder sonst nicht durchsetzbar ist.

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien hat der BGH festgestellt, dass das Berufungsgericht korrekterweise auf zwei unstreitige Forderungen abgestellt habe, die die vorhandene Masse übersteigen, und daher eine Gläubigerbenachteiligung vorliege. Dennoch hob der BGH das Berufungsurteil auf, da es an ausreichenden Feststellungen zum Vorsatz bezüglich der Gläubigerbenachteiligung seitens der Schuldnerin und der Kenntnis hiervon seitens des Beklagten fehle.

 

Praxishinweis | BGH IX ZR 36/22

Gemäß den Ausführungen des BGH ist die Befreiung des Bürgen von der Bürgschaftsverpflichtung durch die Erfüllung der Hauptforderung grundsätzlich nicht anfechtbar nach den §§ 129 ff. InsO.

Eine Ausnahme besteht dabei unter dem Gesichtspunkt der Doppelwirkung einer Anfechtung in Mehrpersonenverhältnissen. Die Abgrenzung durch den BGH nach dem Vorliegen einer Gesamtschuldnerschaft dürfte sich zudem auf weitere Fallkonstellationen übertragen lassen.

Eine weitere Ausnahme des obigen Grundsatzes stellt § 135 Abs. 2 InsO dar (Gesellschaftersicherheit). Außerhalb des § 135 Abs. 2 InsO hat der BGH eine Anfechtbarkeit der Befreiung von der Bürgschaftsverpflichtung abgelehnt, da das Freiwerden von der Bürgschaftsverpflichtung nicht aus der Insolvenzmasse stammt.

Hinsichtlich der Anforderungen an die Entkräftung des Anscheinsbeweises, dass eine Gläubigerbenachteiligung mangels Masse vorliegt, muss der Anfechtungsgegner darlegen, dass das Schuldnervermögen ausreichend ist, um alle zu berücksichtigenden Forderungen zu tilgen. Zu diesen zu berücksichtigenden Forderung gehören neben Forderungen, denen der Insolvenzverwalter widersprochen hat, fortan auch Forderungen, deren Anmeldung zurückgenommen wurde, sofern der Gläubiger nicht endgültig auf die Teilnahme am Insolvenzverfahren verzichtet oder die Forderungen erlassen hat oder die Forderung sonst nicht durchsetzbar ist.