OLG München 29 U 2411/21 Kart
Versagung der Parteifähigkeit einer britischen Limited nach dem Vollzug des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU

15.09.2021

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG München
05.08.2021
29 U 2411/21 Kart
GRUR-RS 2021, 24176

Leitsatz | OLG München 29 U 2411/21 Kart

  1. Seit dem Vollzug des Austritts des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 EUV durch Ablauf der Übergangsfrist am 31.12.2020 ist eine britische Limited, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland hat, nach der sogenannten milden Form der Sitztheorie je nach tatsächlicher Ausgestaltung als GbR, OHG oder – bei nur einer Gesellschafterin – als einzelkaufmännisches Unternehmen zu behandeln.
  2. Eine Fortgeltung der Gründungstheorie mit der Konsequenz der fortbestehenden Rechts- und Parteifähigkeit einer britischen Limited trotz tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland sowie unter der Geltung der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49, 54 AEUV folgt nicht aus dem Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich vom 24.12.2020 (ABI. L 444/2020 vom 31.12.2020), weil es keine Vorschriften enthält, die ausdrücklich und unmittelbar die Niederlassungsfreiheit gewähren, sondern sich aus seinem Anhang SERVIN-1 Nr. 10 vielmehr ergibt, dass die Parteien des Abkommens die Niederlassungsfreiheit gerade nicht in Bezug nehmen oder vereinbaren wollten.

 

Sachverhalt | OLG München 29 U 2411/21 Kart

Die Antragstellerin macht einen kartellrechtlichen Unterlassungsanspruch im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung geltend.

Bei der Antragstellerin handelt es sich um eine in Deutschland tätige Online-Händlerin von Kosmetikwaren, die behauptet ihren Sitz in Großbritannien zu haben. Sie bezieht Produkte von der Antragsgegnerin. Die Antragsgegnerin vertreibt Kosmetikprodukte in verschiedenen europäischen Ländern über ein selektives Vertriebssystem an ihre Depositäre. Dabei behält sie sich vertraglich vor, detaillierte Vorgaben zum Qualitätsprofil der Absatzstätte, zur Bevorratung und Bewerbung der Produkte sowie Verkaufsbeschränkungen aufzuerlegen. Unter anderem behält sie sich eine zeitlich eng begrenzte Preisbindung zur Förderung der Markteinführung eines neuen Produkts vor. Diese ist rechtzeitig bekanntzugeben und zeitlich nicht über sechs Monate zu erstrecken.

Für eine im Februar 2021 auf den Markt gebrachte Produktserie setzt die Antragsgegnerin in den mit den Depositären geschlossenen Depotverträgen für acht Produkte eine Preisbindung gemäß Ziffer IV 7 fest. Diese erstreckt sich über einen Zeitraum von vier Monaten zwischen dem 15.02.2021 und dem 14.06.2021.

Die Antragstellerin hält diese Preisbindung gemäß § 1 GWB, Art. 101 Abs. 1 AEUV für kartellrechtswidrig. Der Antrag wird mangels Begründetheit vom zuständigen Gericht zurückgewiesen. Dagegen legt die Antragstellerin Berufung bei dem OLG München ein.

 

Entscheidung | OLG München 29 U 2411/21 Kart

Das OLG München sieht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung als unzulässig an:

Das Gericht verneint die Parteifähigkeit (§ 50 ZPO) der Antragstellerin, welche von Amts wegen gemäß § 56 ZPO in jeder Lage des Verfahrens und in jedem Rechtszug zu prüfen ist. Es hält fest, die Antragstellerin habe ihre Rechtsfähigkeit mit Vollzug des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 EUV mit Ablauf der Übergangsfrist am 31.12.2020 verloren. Die Entscheidung stützt sich auf die Annahme, die Antragstellerin habe ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland.

Gegenüber Drittstaaten findet auf Gesellschaften und juristische Personen die sogenannte Sitztheorie Anwendung. Danach ist auf eine Gesellschaft das Recht des Staates anzuwenden, das am tatsächlichen Verwaltungssitz der Gesellschaft gilt, also an dem Ort, an dem die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden. Die vorgebrachten Beweise der Antragstellerin, der tatsächliche Verwaltungssitz befinde sich in Großbritannien, seien nicht überzeugend. Nach der Sitztheorie ist auf die Antragstellerin demnach deutsches Recht anzuwenden.
Die britische Limited ist vom deutschen numerus clausus der Gesellschaftsformen nicht erfasst und mithin als solche nicht rechtsfähig. Durch Anwendung der sogenannten milden Form der Sitztheorie soll sie je nach Ausgestaltung nach den bekannten Gesellschaftsformen (GbR, OHG, einzelkaufmännisches Unternehmen) behandelt werden.

Etwas anderes sei auch nicht aus dem Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich vom 24.12.2020 abzuleiten. Die Behauptung, einer auch künftigen Anwendung der Gründungstheorie auf britische Gesellschaften und die damit fortbestehende Rechts- und Parteifähigkeit trotz tatsächlichem Verwaltungssitz auf dem Gebiet der Europäischen Union wie unter der Geltung der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49, 54 AEUV, sei abzulehnen. Das Handels- und Kooperationsabkommen enthalte keine Rechtspositionen, die der Niederlassungsfreiheit in der Ausprägung der EuGH- Rechtsprechung gleichkäme. Insbesondere geht der BGH in seinem Vorlageaufhebungsbeschluss vom 16.02.2021 (II ZB 25/17) davon aus, die Niederlassungsfreiheit setze voraus, dass der Gründungsstaat der Gesellschaft im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit durch die Gesellschaft ein Mitgliedstaat der Europäischen Union ist. Mit Ablauf der Übergangsfrist war das Vereinigte Königreich jedoch zum Zeitpunkt der Antragstellung am 22.03.2021 kein Mitgliedstaat der Europäischen Union mehr.

Im Ergebnis war die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Antragstellung keine existierende juristische Person mehr und damit mangels Rechtsfähigkeit nicht parteifähig im Sinne von § 50 ZPO.

Praxishinweis | OLG München 29 U 2411/21 Kart

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union führt zur gewohnheitsrechtlich anerkannten Anwendung der Sitztheorie gegenüber Drittstaaten. Damit einhergehend kommt es für Gesellschaften mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland zur Anwendung des deutschen Rechts und folglich zu einer Behandlung der Gesellschaft als eine der bekannten deutschen Gesellschaftsformen. Sollte eine britische Limited mithin auch nach dem sogenannten Brexit die Anwendung britischen Rechts begehren, müsste sie nachweisen können, dass ihre tatsächliche Verwaltungstätigkeit auf britischem Territorium vollzogen wird. Die Gründung der Gesellschaft im Vereinigten Königreich reicht mangels Anwendung der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49, 54 AEUV nun nicht mehr aus, um die Rechts- und Parteifähigkeit auch vor deutschen Gerichten begründen zu können.