BGH XII ZB 544/21
Berücksichtigung eines Privatgutachtens zur Geschäftsfähigkeit des Betreuten

09.11.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
22.06.2022
XII ZB 544/21
NJW 2022, 2845

Leitsatz | BGH XII ZB 544/21

  1. Zur Erforderlichkeit einer Betreuung bei Vorliegen einer Vorsorgevollmacht.
  2. Erhebt ein Verfahrensbeteiligter Einwendungen gegen das Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen, hat der Tatrichter diese zu berücksichtigen. Wird in einem Betreuungsverfahren ein Privatgutachten vorgelegt, ist das Gericht verpflichtet, sich mit diesem zu befassen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich aus dem Privatgutachten ein Widerspruch zum Gerichtsgutachten ergeben kann. Insbesondere hat er zu begründen, warum er einem von ihnen den Vorzug gibt (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 29. April 2020 - XII ZB 242/19, FamRZ 2020, 1300).
  3. Zur Erforderlichkeit eines Einwilligungsvorbehalts im Bereich der Vermögenssorge.

Sachverhalt | BGH XII ZB 544/21

Die demenzkranke Betroffene hat zwei leibliche Söhne (SK und KK) und einen Adoptivsohn (A). 2015 hatte sie A eine Vorsorgevollmacht erteilt, er sollte aber nicht über ihre Grundstücke verfügen können. Sollte eine Betreuung notwendig werden, solle A hierfür eingesetzt werden, SK und KK schloss sie aus. Sechs Jahre später (Juni 2021) regt A die Einrichtung einer Betreuung für sie an, die u.a. auch Verfügungen über das Grundstücksvermögen der Betroffenen im Ausland umfassen sollte. Daraufhin legte SK erst eine Vorsorgevollmacht und dann eine Generalvollmacht als notarielle Urkunde der Betroffenen vor, die ihn bevollmächtigt und in der sie die Vollmacht für A widerrief.

Nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens bestellte das AG im Wege der einstweiligen Anordnung den A zum vorläufigen Betreuer mit dem Aufgabenkreis Vermögenssorge und ordnete einen Einwilligungsvorbehalt für diesen Bereich an.

Fraglich ist nun, ob die Betroffene zum Zeitpunkt des Erteilens der Vollmachten geschäftsfähig war. Hierzu gab es im Laufe der Verfahren mehrere Gutachten. Ein vom Gericht bestellter Sachverständiger hat die Geschäftsfähigkeit der Mutter bei der Erteilung der Vollmachten verneint. In einem Privatgutachten, welches SK und KK vorlegten wurde Geschäftsfähigkeit angenommen.
Der Stellenwert eines solchen Privatgutachtens im Verfahren ist umstritten.

Entscheidung | BGH XII ZB 544/21

Grds. wird nach § 1896 II 1 BGB eine Betreuung nur dann eingerichtet, wenn sie erforderlich ist. Hat jemand eine Vorsorgevollmacht oder Generalvollmacht erteilt, dann entfällt die Notwendigkeit einer Betreuung. Somit kam es vorliegend darauf an, welche der Vollmachten und Erklärungen wirksam waren und ob die Betroffene bei deren Abgabe geschäftsfähig gewesen ist § 104 Nr. 2 BGB.

Die Frage der Geschäftsfähigkeit hat das Gericht nach § 26 FamFG von Amts wegen aufzuklären. Erhebt ein Verfahrensbeteiligter Einwendungen gegen das Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen, so hat der Tatrichter diese zu berücksichtigen. Demnach hat der Tatrichter auch vorgelegte Privatgutachten wie im hiesigen Fall zu berücksichtigen und sich damit auseinanderzusetzen – insbesondere dann, wenn sich ein Widerspruch zwischen dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen und dem Privatgutachten ergibt. „Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen hat er (der Tatrichter) von Amts wegen nachzugehen“ (Rn. 18). Weiterhin ist das Gericht „gehalten, sich mit den Streitpunkten zwischen dem gerichtlichen Sachverständigengutachten und dem Privatgutachten sorgfältig und kritisch auseinanderzusetzen und die Streitpunkte zu würdigen. Insbesondere hat es zu begründen, warum es einem von ihnen den Vorzug gibt (vgl. Senat NJW-RR 2020, 1011 = FamRZ 2020, 1300 Rn. 22 m.w.N.).“ Gemessen hieran hat das Beschwerdegericht keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, dass die Betroffene zum Zeitpunkt der Erteilung der General-/Vorsorgevollmacht zugunsten SK geschäftsunfähig iSv § 104 Nr. 2 BGB war. Es wird ausschließlich auf das gerichtliche Sachverständigengutachten abgestellt, obwohl das Privatgutachten im Widerspruch hierzu steht. Der Widerspruch und der Inhalt des Privatgutachtens wurden von dem Gericht nicht ausreichend aufgeklärt, so der BGH.

Praxishinweis | BGH XII ZB 544/21

Grundsätzlich gilt also, dass auch Privatgutachten im Verfahren beachtet werden müssen, insb. wenn sie im Widerspruch zu einem gerichtlich bestellten Gutachten stehen. Auch die Umstände, unter denen die Gutachten zustande gekommen sind sollen beachtet werden. Vorliegend hatte der gerichtliche Gutachter in einem Café mit der Betroffenen über die Betreuung gesprochen, etablierte testpsychologische Verfahren nutzte er nicht. Die Verwertung eines Gutachtens, das im Zivilverfahren eingeholt wurde, wird jedoch in einem Betreuungsverfahren grds. abgelehnt (BGH NJW-RR 2019, 1345).