BAG 1 ABR 37/20 (A)
Zur Pflicht hinsichtlich der Nachholung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer bei einer zunächst „arbeitnehmerlosen“ SE

30.01.2023

Notizen zur Rechtsprechung

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Fundstelle:

BAG
17.05.2022
1 ABR 37/20 (A)
ZIP 2022, 2437

Leitsatz | BAG 1 ABR 37/20 (A)

Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV darum, die folgenden Fragen zu beantworten:

  1. Ist Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 in Verbindung mit Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG dahin auszulegen, dass bei der Gründung einer Holding-SE durch beteiligte Gesellschaften, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, sowie ihrer Eintragung in das Register eines Mitgliedstaats (sog. „arbeitnehmerlose SE“) ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE nach dieser Richtlinie dieses Verhandlungsverfahren nachzuholen ist, wenn die SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird?
  2. Sollte der Gerichtshof die erste Frage bejahen:
    Ist die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens in einem solchen Fall ohne zeitliche Begrenzung möglich und geboten?
  3. Sollte der Gerichtshof die zweite Frage bejahen:
    Steht Art. 6 der Richtlinie 2001/86/EG einer Anwendung des Rechts desjenigen Mitgliedstaats, in dem die SE jetzt ihren Sitz hat, für eine nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens entgegen, wenn die „arbeitnehmerlose SE“ in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Durchführung eines solchen Verfahrens in das Register eingetragen und noch vor der Verlegung ihres Sitzes herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde?
  4. Sollte der Gerichtshof die dritte Frage bejahen:
    Gilt dies auch, wenn der Staat, in dem diese „arbeitnehmerlose SE“ erstmals eingetragen wurde, nach deren Sitzverlegung aus der Europäischen Union ausgetreten ist und sein Recht keine Vorschriften über die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE mehr enthält?

Sachverhalt | BAG 1 ABR 37/20 (A)

Die Holding SE wurde 2013 nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 (SE-VO) durch die O Ltd und die O GmbH gegründet und am 28.03.13 in das Register für England und Wales eingetragen. Die beteiligten Gesellschaften beschäftigten keine Arbeitnehmer und hatten keine Tochtergesellschaften i.S.v. Art. 2 Buchstabe c der RL 2001/86/EG, bei denen Arbeitnehmer beschäftigt waren. Deshalb fanden vor Eintragung der Holding keine Verhandlungen über eine Arbeitnehmerbeteiligung nach Art. 3 - 7 der Richtlinie statt.

Die Holding SE war ab dem 29.03. alleinige Gesellschafterin der O Holding GmbH. Diese hatte ihren Sitz in Hamburg und verfügte über einen Aufsichtsrat, der zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern bestand. Am 14.06.13 beschloss die Holding SE, die O Holding GmbH in eine KG (O KG) umzuwandeln. Infolge der Umwandlung entfiel die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat.

Die Holding SE war und ist Kommanditistin der O KG gem. § 161 Abs. 1 HGB. Persönlich haftende Gesellschafterin der O KG i.S.v. § 161 Abs. 1 HGB war und ist die O Management SE, deren alleinige Anteilseignerin die Holding SE ist. Die Management SE hat ihren Sitz ebenfalls in Hamburg und verfügt über einen Verwaltungsrat. Weder die Holding SE noch die Management SE beschäftigen eigene Arbeitnehmer. Bei der O KG selbst sind etwa 816 Arbeitnehmer tätig, bei ihren Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der EU sind insgesamt ca. 2.200 Arbeitnehmer beschäftigt.

Mit Wirkung zum 4.10.17 verlegte die Holding SE ihren Sitz nach Hamburg. Der Konzernbetriebsrat der O KG leitetet ein Beschlussverfahren ein und war der Meinung, die Leitung der Holding SE sei verpflichtet, ein Verfahren zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums einzuleiten. Da die Holding SE in mehreren Mitgliedstaaten über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften im Sinn von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/86/EG verfüge, seien die - grundsätzlich vor der Eintragung einer SE durchzuführenden - Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung nachzuholen.

Die Leitung der Holding SE vertritt die Auffassung, es bestehe keine Pflicht zur Durchführung solcher nachträglichen Verhandlungen. Die Vorinstanzen haben die Anträge abgewiesen.

Entscheidung | BAG 1 ABR 37/20 (A)

Das Erfordernis eines, vom Konzernbetriebsrat verlangten nachträglichen Verhandlungsverfahren nach Art. 3 Abs. 1 der RL 2001/86/EG, hängt nach Ansicht des Senats von dem SE-Beteiligungsgesetz und somit von dem Recht des Mitgliedstaats ab, in dem die Holding SE aktuell ihren Sitz hat. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des SE-Beteiligungsgesetzes ist der Geltungsbereich eröffnet, wenn eine SE ihren Sitz zunächst in einem anderen EU Mitgliedstaat hatte, ihn dann aber nach Deutschland verlegt. Somit ist das Gesetz ab Eintragung der Holding SE in das Handelsregister am 04.10.70, auf sie anwendbar.

Nichts anderes folgt aus Art. 6 der RL 2001/86/EG. Zwar bestimmt die Vorschrift, dass für das Verhandlungsverfahren das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich ist, in dem die SE „ihren Sitz haben wird“. Dem liegt aber die Vorstellung zugrunde, dass das Verhandlungsverfahren zur Arbeitnehmerbeteiligung stets im Rahmen der Gründung und vor Eintragung der SE durchzuführen ist. Dieses Verständnis von Art. 6 der Richtlinie wird auch durch die Regelungen der SE-VO bestätigt. So lassen der Erwägungsgrund 19 und Art. 1 Abs. 4 SE-VO erkennen, dass die Richtlinie 2001/86/EG eine untrennbare Ergänzung der Verordnung darstellt. Auch Art. 8 Abs. 16 SE-VO widerspricht dem nicht, da die Regelung nicht die Durchführung des Verhandlungsverfahrens zur Arbeitnehmerbeteiligung in der SE erfasst. Dieses wird nach Art. 1 Abs. 4 SE-VO durch die Richtlinie 2001/86/EG geregelt.

Das SE-Beteiligungsgesetz enthält keine ausdrückliche rechtliche Grundlage für die Einleitung eines Verhandlungsverfahrens über die Arbeitnehmerbeteiligung nach Gründung und Eintragung einer Holding-SE. Die Vorschriften in §§ 4 bis 17 sowie §§ 19 und 20 SEBG regeln lediglich die Bildung… des Verhandlungsgremiums und das Verhandlungsverfahren bei der geplanten Gründung einer SE, nicht auch nach deren Gründung und Eintragung. Auch § 18 Abs. 1 und 2 SEBG findet keine unmittelbare Anwendung, denn hier wird vorausgesetzt, dass bei Gründung der SE ein besonderes Verhandlungsgremium gebildet worden war. Zwar finden nach § 18 Abs. 3 SEBG Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligungsrechte statt, wenn strukturelle Änderungen der SE geplant sind. Bei der Holding SE aber sind seit dem 4.10.17 keine strukturellen Änderungen geplant, durch welche die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer gemindert werden könnten. Zudem regelt auch diese Vorschrift nur eine „Wiederaufnahme“ von Verhandlungen.

Der Senat geht allerdings davon aus, dass die §§ 4 -17 sowie §§ 19, 20 SEBG auf die Holding SE analog angewandt werden könnten.

Die ursprüngliche Registereintragung der Holding SE erfolgte, obwohl die Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 2 SE-VO nicht vorlagen. Die dortigen Anforderungen sollen das in der Richtlinie 2001/86/EG vorgesehene Verhandlungsverfahren bei der Arbeitnehmerbeteiligung absichern. Da die Holding SE bei der Gründung keine Arbeitnehmer hatte, die ein besonderes Verhandlungsgremium hätten bilden können und so der Zweck des Verfahrens nicht erfüllt werden kann, ist Art. 12 Abs. 2 SE-VO insoweit einschränkend zu verstehen und trotz Fehlens der dort genannten Anforderungen eine Eintragung vorzunehmen. Die Eintragung einer solchen „arbeitnehmerlosen“ SE ist unionsweit üblich.

Seit dem 29.03.2013 hat die SE aber Tochtergesellschaften, die Arbeitnehmer beschäftigen, da sie durch Erwerb aller Gesellschaftsanteile der O Holding GmbH einen beherrschenden Einfluss über dieses Unternehmen und seine Tochtergesellschaften erlangte. Zwar wurde und wird die O KG durch ihre Komplementärin, die Management SE, vertreten. Da die Holding SE aber alleinige Aktionärin der Management SE war, konnte und kann sie deren Verwaltungsrat bestimmen, der wiederum die geschäftsführenden Direktoren bestellt. Dadurch hat die Holding SE beherrschenden Einfluss auch auf die O KG und deren in Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässige Tochtergesellschaften.

Bei einer solchen Fallgestaltung wäre es nach nationalen Recht möglich, die Regelungen in den §§ 4 ff. SEBG auf die Holding SE analog anzuwenden. Im deutschen Recht ist eine Analogie möglich, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält und eine vergleichbare Interessenslage vorliegt. Ob dies der Fall ist, hängt von der Auslegung des Unionsrechts ab.

Fraglich ist demnach, ob Art. 12 Abs. 2 der SE-VO in Verbindung mit Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG dahin auszulegen ist, dass das Verhandlungsverfahren zur Arbeitnehmerbeteiligung in der SE im Fall der Gründung und Eintragung einer „arbeitnehmerlosen“ Holding-SE in das Register, ohne dessen vorherige Durchführung nachzuholen ist, wenn die SE danach herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Gesellschaften wird. In diesem Fall enthielte das SE-Beteiligungsgesetz eine planwidrige Regelungslücke, da das Unionsrecht eine Pflicht zur Nachholung der Verhandlungen in einem Fall wie dem Ausgangsfall geböte. Zwar regeln auch Art. bis 7 der RL 2001/86/EG nicht ausdrücklich, dass das Verhandlungsverfahren nachzuholen ist, dies folgt aber daraus, dass eigentlich ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren bereits bei Gründung der SE durchgeführt wird. Eine Pflicht zur Nachholung könnte sich aber aus Art. 11 der Richtlinie 2001/86/EG ergeben. Dies setzte voraus, dass bei einem solch engen zeitlichen Zusammenhang von Eintragung der Holding SE und Erwerb von Tochtergesellschaften eine missbräuchliche Gestaltung angenommen werden kann, die dazu dient, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten.

Sollte die erste Frage bejaht werden, würde sich die weitere Frage stellen, ob die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens in einem solchen Fall ohne zeitliche Begrenzung möglich und geboten ist. Nach Auffassung des Senats wäre eine solche Verpflichtung nicht fristgebunden.

Weiterhin wäre zu klären, ob sich die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens nach dem Recht desjenigen Mitgliedstaats richtet, in dem die Holding-SE jetzt ihren Sitz hat, wenn sie in einem anderen EU Mitgliedstaat eingetragen wurde und vor Verlegung ihres Sitzes herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften geworden ist. Deshalb kommt es darauf an, wie Art. 6 der RL 2001/86/EG auszulegen ist.

Sollte der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangen, dass sich die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens – entgegen der Ansicht des Senates - nach dem Recht des Staats richtet, in dem diese „arbeitnehmerlose“ SE erstmals eingetragen wurde, stellte sich die Frage, ob das auch dann der Fall ist, wenn dieser Staat nach der Verlegung des Sitzes der SE aus der EU ausgetreten ist und sein Recht keine Vorschriften über die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE mehr enthält. Die RL 2001/86/EG wurde in Großbritannien zwar durch die Regulations 2009 No. 2401 umgesetzt. Mit Ablauf des 31. Dezember 2020 wurden jedoch alle im Vereinigten Königreich eingetragenen SE in „UK Societas“ umgewandelt und die Regelungen zum Verhandlungsverfahren über eine Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE gestrichen.

Praxishinweis | BAG 1 ABR 37/20 (A)

Die Entscheidung über die Klage ist so lange ausgesetzt, bis der EuGH über die Vorlagefragen entschieden hat. Es wird abzuwarten sein, inwieweit eine Nachholung von Verfahren zur Arbeitnehmerbeteiligung im Unionsrecht gewollt ist und woraus diese abgeleitet wird. Weiterhin wird vor dem Hintergrund des Brexits relevant, ob nach Ansicht des EuGH, auch dann das Recht des Landes angewendet wird, in dem eine Gesellschaft ursprünglich eingetragen wurde (sofern dies der Fall ist), wenn bei einem späteren Austritt aus der EU bestimmte arbeitnehmerschützende Vorschriften gestrichen werden.