BGH II ZR 84/20
Weiche Patronatserklärung bei Überschuldung; Zulässigkeit des sog. „Sammelklage-Inkassos“

16.12.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
13.07.2021
II ZR 84/20
GmbHR 2022, 143

Leitsatz | BGH II ZR 84/20

  1. Der Inkassobegriff der §§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 RDG umfasst Geschäftsmodelle, die ausschließlich oder vorrangig auf eine gerichtliche Einziehung der Forderung abzielen. Dies gilt auch im Fall des sog. „Sammelklage-Inkasso“.
  2. Eine weiche Patronatserklärung kommt als Mittel zur Vermeidung der rechnerischen Überschuldung nicht in Betracht. Wenn sich in der Ertrags- und Finanzplanung bereits Liquiditätslücken abzeichnen, lässt sich eine positive Fortführungsprognose bei einer bereits in der Krise befindlichen Gesellschaft damit nur ausnahmsweise begründen.

Sachverhalt | BGH II ZR 84/20

Der Beklagte war ab Februar 2017 Executive Director der A. PLC, einer Gesellschaft nach englischem Recht, die die Komplementärin der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG, der Schuldnerin, war. Über das Vermögen der Schuldnerin wurde am 01.11.2017 auf Antrag des Beklagten vom 15.08.2017 das Insolvenzverfahren eröffnet.

Die Klägerin, eine GmbH, die über eine Registrierung gemäß § 10 RDG für den Bereich der Inkassodienstleistungen verfügt, macht aus abgetretenem Recht Schadensersatzansprüche mit der Behauptung geltend, der Beklagte habe den Insolvenzantrag für die Schuldnerin nicht rechtzeitig gestellt. Den Forderungen in Höhe von 24.217,00 € liegen Flugbuchungen von sieben Kunden zugrunde, die im Zeitraum vom 05.05.2017 bis zum 06.07.2017 bei der Schuldnerin Flüge gebucht und bezahlt hatten. Die Flüge wurden infolge der Insolvenz der Schuldnerin nicht mehr durchgeführt.

LG Berlin und KG haben die Klage abgewiesen, da die Aktivlegitimation infolge eines Verstoßes gegen § 3 RDG iVm § 134 BGB fehle.

Entscheidung | BGH II ZR 84/20

Der BGH hob das Berufungsurteil auf und verwies die Sache an das Berufungsgericht zurück.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts seien vom Inkassobegriff der § 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 RDG auch Geschäftsmodelle miterfasst, die ausschließlich oder vorrangig, wie im zu entscheidenden Fall, auf eine gerichtliche Einziehung der Forderung abzielten. Das „Sammelklage-Inkasso“, bei dem mehrere Forderungen gesammelt und gebündelt gerichtlich geltend gemacht würden, verstieße nicht gegen das RDG, und die Abtretungen sei demnach nicht gem. § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG nichtig. Der BGH führt ausführlich die divergierenden Meinungen in Teilen der Literatur und Rechtsprechung auf, die das Sammelklage-Inkasso bestreiten. Nach Rechtsprechung des BGH und des BVerfG sei eine Einschränkung des Inkassobegriffs gem. Art. 12 Abs. 1 GG aber nicht zu rechtfertigen. Eine Unvereinbarkeit mit einer anderen Leistungspflicht nach § 4 RDG bestehe nicht. Es liege kein Interessenkonflikt vor, weshalb eine analoge Anwendung des § 4 RDG nicht gerechtfertigt werden könne.

Der BGH führt aus, das Berufungsgericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass - die Überschuldung der Schuldnerin unterstellt - ein Verschulden des Beklagten zu verneinen sei, weil er subjektiv vom Bestehen einer positiven Fortführungsprognose habe ausgehen können. Soweit sich das Berufungsgericht darauf stützte, dass der Beklagte von einer weiteren Finanzierung durch E. habe ausgehen können und vor Ende Juli 2017 mit einer Aufkündigung des Engagements nicht zwingend habe insolvenzauslösend rechnen müssen, verkenne es die Anforderungen an eine positive Fortführungsprognose und an die Sorgfaltspflichten eines Geschäftsleiters. Vorgelegen habe ein in englischer Sprache verfasstes Schreiben des Präsidenten der Gesellschafterin der PLC an die Komplementärin der Schuldnerin vom 28.04.2017 (Comfort Letter), wonach sinngemäß auf der Grundlage der mitgeteilten Vorausberechnungen bis zum 31.12.2018 die Intention bestätigt wurde, der Schuldnerin die notwendige Unterstützung für die vorhersehbare Zukunft, jedenfalls aber für 18 Monate ab dem 28.04.2017 zu geben, damit die fälligen finanziellen Verpflichtungen erfüllt werden könnten.

Vorliegend sei mangels anderweitiger Feststellungen des Berufungsgerichts zugunsten der Revision von einer weiche Patronatserklärung auszugehen. Eine solche komme als Mittel zur Vermeidung der rechnerischen Überschuldung nicht in Betracht. Eine positive Fortbestehungsprognose der Schuldnerin könne nicht auf die nach den bisherigen Feststellungen zur weichen Patronatserklärung im Comfort Letter gestützt werden. Zwar müsse eine weiche Patronatserklärung, auch wenn kein rechtsverbindlicher Ausstattungsanspruch vorliege, im Rahmen der Beurteilung, ob die Fortführung des Unternehmens noch überwiegend wahrscheinlich sei, berücksichtigt werden. Eine weiche Patronatserklärung könne jedoch nur ausnahmsweise zur positive Fortführungsprognose bei einer bereits in der Krise befindlichen Gesellschaft führen. Ließe man zu, dass ein Tochterunternehmen eine positive Fortbestehensprognose ohne Weiteres auf eine solche Patronatserklärung stützen könnte, eröffnete man dem Mutterunternehmen die Möglichkeit, in der Krise ihrer Tochtergesellschaft die Insolvenz der Tochter auf Kosten der übrigen Gläubiger zu verzögern, ohne ein zusätzliches eigenes Haftungsrisiko übernehmen zu müssen. Ein ordentlicher Geschäftsleiter dürfe in aller Regel nicht zu dem Ergebnis kommen, dass der Patron seiner nicht rechtsverbindlichen Ausstattungszusage während des gesamten Prognosezeitraums mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit tatsächlich nachkommen werde. In seiner Liquiditätsplanung hätten die entsprechenden Mittel außer Betracht zu bleiben. Außergewöhnliche Umstände, die im Ausnahmefall eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, z.B., weil der Patron mit der Ausstattung der Gesellschaft ganz überwiegend keine Gewinnerzielung anstrebt und aus übergeordneten Gründen zur Übernahme von Verlusten bereit bzw. etwa im Bereich der Daseinsvorsorge verpflichtet ist, seien vom Geschäftsleiter substantiiert darzulegen und zu beweisen. Ein Hinweis darauf, dass der Patron in der Vergangenheit finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt hat, auch erhebliche, reiche für sich genommen nicht aus.

Praxishinweis | BGH II ZR 84/20

Dieses Urteil ist für die Praxis in zweierlei Hinsicht bedeutend:

Es stellt für Legal-Tech-Geschäftsmodelle einen wahren Paukenschlag dar (Skupin, GRUR-Prax 2021, 546). Inkassodienstleister dürfen zukünftig auch gerichtlichen Anspruchsdurchsetzung vertraglich vereinbaren. Der BGH unterstreicht sogar die positiven Wirkungen der Geschäftsmodelle im Bereich des Sammelklagen-Inkassos für den Zugang zum Recht hervor. Entscheidend ist, dass der BGH die Aktivlegitimation für komplizierte Ansprüche aus Insolvenzverschleppung bejaht. Dies klärt zudem implizit, dass auf Grundlage der Inkassozulassung auch Forderungen durchgesetzt werden dürfen, die aus rechtlichen Spezialmaterien stammen.

Für die gesellschafts- und insolvenzrechtliche Praxis stellt der BGH fest, dass bei einer weichen Patronatserklärung eine positive Fortführungsprognose ausnahmsweise begründet werden kann, wenn sich in der Ertrags- und Finanzplanung bereits Liquiditätslücken abzeichnen. Unsicher und entscheidend ist aber, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit der Geschäftsführer im Rahmen seines Beurteilungsspielraums im Einzelfall die weiche Patronatserklärung berücksichtigen darf. Es reicht in jedem Fall nicht aus, dass der Patron in der Vergangenheit Mittel zur Verfügung gestellt hat.
Hier muss auf weitere klärende Rechtsprechung gewartet werden.