BayObLG 102 ZBR 68/21
Statusverfahren bei der SE; Zulässigkeit von Beteiligungsvereinbarungen aufgrund des Ist-Zustands oder des Soll-Zustands

24.10.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BayObLG
14.09.2021
102 ZBR 68/21
AG 2022, 660

Leitsatz | BayObLG 102 ZBR 68/21

Es richtet sich bei einer durch formwechselnde Umwandlung gegründeten, dualistisch aufgebauten Europäischen Gesellschaft (SE) die im Rahmen eines gerichtlichen Statusverfahrens (§§ 98, 99 AktG) festzulegende Zusammensetzung des Aufsichtsrats danach, wie dieser vor der Umwandlung richtigerweise zusammenzusetzen war (Soll-Zustand). Hingegen kommt es auf die in der Gründungsgesellschaft tatsächlich praktizierte Mitbestimmung an (Ist-Zustand), sofern zum Umwandlungszeitpunkt kein gerichtliches Statusverfahren eingeleitet worden ist und ein solches auch nicht hätte eingeleitet werden können.

Sachverhalt | BayObLG 102 ZBR 68/21

Die Beteiligten streiten über die rechtmäßige Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Antragsgegnerin nach deren Umwandlung in eine Societas Europaea (SE).

Die Antragsgegnerin wurde bis ins Jahr 2013 in der Rechtsform einer AG nach deutschem Recht betrieben. Der Aufsichtsrat setzte sich ausschließlich aus Vertretern der Anteilseigner zusammen. Auf Grundlage eines Umwandlungsplans aus dem Jahr 2012 wurde die Antragsgegnerin in eine dualistisch organisierte SE umgewandelt. Die Eintragung erfolgte im Februar 2013. Im Vorfeld schloss die AG mit dem besonderen Verhandlungsgremium eine Mitbestimmungsvereinbarung, die u.a. in Ziff. 22 wie folgt lautete: „Es gibt keine Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat.“

Der Antragsteller ist Aktionär der Antragsgegnerin und beantragte, die gerichtliche Entscheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Antragsgegnerin gem. § 98 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AktG. Der Aufsichtsrat sei nicht nach den für ihn maßgebenden gesetzlichen Vorschriften zusammengesetzt, da er §§ 1 und 5 MitbestG widerspreche. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Auf die Beschwerde des Antragstellers wies das OLG München die Sache zur erneuten Verhandlung an das LG zurück. Das LG gab den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu der Frage der Möglichkeit der Einleitung eines Statusverfahrens im Zeitpunkt der Umwandlung. Das LG wies den Antrag des Antragstellers im Ergebnis erneut zurück.  

 

Entscheidung | BayObLG 102 ZBR 68/21

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig. Insbesondere findet das Statusverfahren nach §§ 96 Abs. 4, 97 bis 99 AktG auch bei einer SE Anwendung.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das LG hat seiner Entscheidung ohne Rechtsfehler zugrunde gelegt, dass sich die im Statusverfahren festzulegende Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Antragsgegnerin im Streitfall nicht nach der in der Gründungsgesellschaft gesetzlich gebotenen Mitbestimmung, dem „Soll-Zustand“, bestimmt, sondern nach der in der Gründungsgesellschaft tatsächlich praktizierten Mitbestimmung, mithin nach dem „Ist-Zustand“; es ist weiter auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum „Ist-Zustand“ ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, dass der Aufsichtsrat der Antragsgegnerin ordnungsgemäß besetzt ist und kein paritätisch gebildeter Aufsichtsrat nach den Vorgaben des Mitbestimmungsgesetzes gebildet werden musste.

Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer richtet sich bei einer SE gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 SEBG allein nach diesem Gesetz. Das MitbestG ist nicht unmittelbar anwendbar, da die SE nicht zu den in § 1 MitbestG abschließend aufgezählten Gesellschaftsformen zählt.

Nach dem SEBG besteht eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer durch eine Beteiligung in Organen der SE nur, wenn eine Vereinbarung getroffen wurde, die eine solche Mitbestimmung vorsieht (§ 21 Abs. 3 bis 6 SEBG) oder wenn die Voraussetzungen der Mitbestimmung kraft Gesetzes vorliegen (§§ 34 ff. SEBG).

Hier richtet sich die Arbeitnehmer-Mitbestimmung nicht nach der gesetzlichen Auffanglösung nach § 34 Abs. 1 SEBG iVm § 22 Abs. 1 Nr. 2 SEBG, sondern nach der insoweit vorrangigen Mitbestimmungsvereinbarung, nach der eine Arbeitnehmer-Mitbestimmung nicht vorgesehen ist. Diese Mitbestimmungsvereinbarung ist auch nicht gem. § 134 BGB iVm §§ 15 Abs. 5, 21 Abs. 6 SEBG nichtig. Grundsätzlich ist nach § 21 Abs. 6 SEBG eine Arbeitnehmerbeteiligung im gleichen Maß wie in der umzuwandelnden Gesellschaft zu gewährleisten. Ob die Antragsgegnerin entsprechend dem Vortrag des Antragsstellers zum Zeitpunkt der Umwandlung als AG gesetzlich zur Bildung eines paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrats gemäß §§ 1, 5 MitbestG verpflichtet gewesen sei, ist hier jedoch nicht entscheiden. Es kommt insofern nicht darauf an, wie der Aufsichtsrat vor der Umwandlung richtigerweise zusammengesetzt sein müsste (Soll-Zustand), sondern auf die in der Gründungsgesellschaft tatsächlich praktizierte Mitbestimmung (Ist-Zustand).

Das folgt daraus, dass zum Umwandlungszeitpunkt weder ein Statusverfahren nach § 98 Abs. 1AktG eingeleitet wurde noch hätte eingeleitet werden können mangels Bekanntmachung gem. § 97 Abs. 1 AktG bzw. mangels Streits oder Unwissenheit im Sinne des § 98 Abs. 1 AktG darüber, nach welches gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen gewesen sei. Die Mitbestimmungsvereinbarung der AG gilt somit auch in Bezug auf die SE fort.

Praxishinweis | BayObLG 102 ZBR 68/21

Der BGH hatte in seiner Entscheidung vom 23.07.2012 – II ZB 20/18 offen gelassen, ob der „Soll-Zustand“ oder der „Ist-Zustand“ maßgeblich sei. Das BayObLG stellt hier fest, dass im zugrunde liegenden Fall die tatsächlich praktizierte Mitbestimmung, also der „Ist-Zustand“ maßgeblich ist, da weder ein Statusverfahren eingeleitet wurde noch hätte eingeleitet werden können.