BAG 7 ABR 6/22
Nichtigkeit der erstmaligen Wahl von Arbeitnehmervertretern zum Aufsichtsrat in zuvor aufsichtsratsloser GmbH ohne vorheriges aktienrechtliches Statusverfahren

19.04.2024

Leitsatz | BAG 7 ABR 6/22

Die erstmalige Wahl von Arbeitnehmervertretern zum Aufsichtsrat in einer bislang aufsichtsratslosen GmbH ist ohne vorherige Durchführung des aktienrechtlichen Statusverfahrens nichtig.

Sachverhalt | BAG 7 ABR 6/22

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer. Antragsteller sind die betroffene GmbH und einer ihrer Geschäftsführer. Die Satzung der GmbH sieht die Errichtung eines Aufsichtsrates nicht vor. Die GmbH wurde im Sommer 2018 mit einer Schwestergesellschaft verschmolzen. Mit Bekanntmachung vom 21.11.2018 informierte die GmbH die Beschäftigten darüber, dass ein Aufsichtsrat nach dem MitbestG zu bilden sei. Im Januar 2019 wurden bei der GmbH ein Unternehmenswahlvorstand und sieben Betriebswahlvorstände gebildet. Es wurden die Bekanntmachungen über die Einreichung von Wahlvorschlägen ausgehängt. Dabei war vermerkt, dass nach den Regeln des MitbestG sechs Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zu wählen seien. Im Juli 2019 forderte die Antragstellerin den Unternehmensvorstand zum Abbruch der Wahl auf, denn die Zahl der in der Regel Beschäftigten war durch eine Unternehmensschließung dauerhaft auf unter 2.000 gesunken. Die Wahl fand dennoch statt. Im März 2020 veröffentlichte die Geschäftsführung der GmbH im Bundesanzeiger eine Bekanntmachung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrates, wonach ein Aufsichtsrat nach dem DrittelbG zu bilden sei. Die Antragsteller beantragten sodann beim Arbeitsgericht die Feststellung, dass die durchgeführte Wahl nichtig oder hilfsweise anfechtbar sei, da das aktienrechtlich vorgesehene Statusverfahren nicht durchgeführt worden sei.

Das Arbeitsgericht gab dem Feststellungsantrag statt. Das LAG wies die Beschwerde des Gesamtbetriebsrats als unzulässig und die dreier gewählter Arbeitnehmer- bzw. Gewerkschaftsvertreter als unbegründet ab. Hiergegen wendet sich die Rechtsbeschwerde des Gesamtbetriebsrats und der Arbeitnehmer- bzw. Gewerkschaftsvertreter.

Entscheidung | BAG 7 ABR 6/22

Das BAG bestätigte die Entscheidung des LAG. Die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer ist wegen der damit verbundenen weitreichenden Folgen nur in Ausnahmefällen nichtig. Ein solcher Ausnahmefall liegt vor, wenn bei der Wahl gegen fundamentale Wahlgrundsätze in einem so hohen Maße verstoßen wurde, dass nicht einmal mehr der Anschein einer ordnungsgemäßen Wahl vorliegt, oder die Voraussetzungen für die Wahl nicht vorliegen. Letzteres war hier der Fall. Vor der Einleitung der abgehaltenen Wahl hätte ein Statusverfahren nach den §§ 97 ff. AktG durchgeführt werden müssen. Ohne Durchführung eines solchen Statusverfahrens ist eine Wahl von Arbeitnehmern für den Aufsichtsrat bei einer bisher aufsichtsratslosen GmbH, die nach Maßgabe des MitbestG durchgeführt wurde, nichtig.

Gemäß § 1 Abs. 1 MitbestG haben Arbeitnehmer in Unternehmen, die u.a. in der Rechtsform einer GmbH betrieben werden und in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigen, ein Mitbestimmungsrecht nach Maßgabe des MitbestG. Nach § 6 Abs. 1 MitbestG ist bei den in § 1 Abs. 1 MitbestG bezeichneten Unternehmen ein Aufsichtsrat zu bilden. Nach § 6 Abs. 2 S. 1 MitbestG bestimmen sich die Bildung und Zusammensetzung des Aufsichtsrats nach den §§ 7 bis 24 MitbestG und, soweit sich dies nicht schon aus anderen gesetzlichen Vorschriften ergibt, nach § 96 Abs. 4, §§ 97-101 Abs. 1 und 3 und den §§ 102-106 AktG. Damit verweist die Norm des § 6 Abs. 2 S. 1 MitbestG nicht nur für die Zusammensetzung, sondern auch für die Bildung des Aufsichtsrats auf das Statusverfahren nach § 96 Abs. 4 bis 99 AktG. § 27 EGAktG bestimmt eine sinngemäße Anwendung der Vorschriften auf die GmbH. Die Durchführung eines Statusverfahrens ist somit immer dann notwendig, bevor in einer GmbH erstmals der Aufsichtsrat nach Maßgabe des MitbestG gebildet und hierzu eine Wahl von Arbeitnehmern eingeleitet wird.

Entsprechendes folgt auch aus dem Normzweck und Regelungsgegenstand der §§ 97 bis 99 AktG. Das formalisierte Verfahren dient der Feststellung der richtigen Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Es gewährleistet die sichere Überleitung von einem Mitbestimmungsmodell in ein anderes. In einem ersten Schritt ist dafür zu klären, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist. Hierzu erfolgt entweder eine Bekanntmachung nach § 97 Abs. 1 AktG oder die Beantragung einer gerichtlichen Entscheidung gem. § 98 AktG. In einem zweiten Schritt wird anschließend die Zusammensetzung des Aufsichtsrats verändert. Das Statusverfahren umfasst somit auch die Frage, ob überhaupt ein mitbestimmender Aufsichtsrat zu bilden ist. Dass streitig oder ungewiss ist, nach welchen gesetzlichen Vorschriften sich der Aufsichtsrat zusammensetzt, ist irrelevant, denn allein das gerichtliche Verfahren ist nach § 98 Abs. 1 AktG daran gebunden. Das Statusverfahren ist auch durchzuführen, wenn sich alle Beteiligten über die Auslegung der gesetzlichen Grundlage einig sind.

Auch der in § 96 Abs. 4 AktG verankerte Kontinuitätsgrundsatz streitet für die zwingende Durchführung eines Statusverfahrens vor erstmaliger Bildung eines Aufsichtsrats nach Maßgabe des MitbestG bei einer GmbH. In einer aufsichtsratslosen GmbH ist nach dem Kontinuitätsprinzip grundsätzlich kein Aufsichtsrat zu bilden, solange nicht aufgrund eines Statusverfahrens feststeht, dass sich der Aufsichtsrat nach dem MitbestG, oder dem DrittelbG, zusammensetzt.

Praxishinweis | BAG 7 ABR 6/22

Die Entscheidung des BAG macht deutlich, welch große Relevanz die Beachtung von Schwellenwerten im Hinblick auf das DrittelbG und das MitbestG im Rahmen von konzerninternen Restrukturierungen hat. Bei der erstmaligen Einrichtung eines Aufsichtsrats bei einer GmbH ist stets ein Statusverfahren nach den §§ 97 ff. AktG durchzuführen, innerhalb dessen die ordnungsgemäße Besetzung des Aufsichtsrats nach den Aspekten der Mitbestimmung festgestellt wird. Die Relevanz des Themas der „Mitbestimmung“ zeigt sich auch daran, dass das BAG mit seinem Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 17.05.2022 (Az. 1 ABR 37/20 (A), BeckRS 2022, 32734) mehrere Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Mitbestimmung dem EuGH vorgelegt hat (Schiller, GWR 2023, 320).