BGH XII ZR 8/21
Mietzahlungspflicht bei coronabedingter Geschäftsschließung

20.01.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
12.01.2022
XII ZR 8/21
BeckRS 2022, 48

Leitsatz | BGH XII ZR 8/21

  1. Die durch die COVID-19-Pandemie bedingte Schließung eines Einzelhandelsgeschäfts führt nicht zu einem Mangel der Mietsache im Sinne von § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB. Dem Vermieter wird dadurch die vertraglich geschuldete Leistung zur Überlassung und Erhaltung der Mietsache in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand auch nicht ganz oder teilweise unmöglich.
  2. Im Fall einer Geschäftsschließung, die auf einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie beruht, kommt grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betracht.
  3. Bei der Prüfung, ob dem Mieter ein Festhalten an dem unveränderten Vertrag unzumutbar ist, verbietet sich eine pauschale Betrachtungsweise. Maßgeblich sind vielmehr sämtliche Umstände des Einzelfalls. Daher sind auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat.

Sachverhalt | BGH XII ZR 8/21

Die Beklagte mietete von der Klägerin im Bezirk des Landgerichts Chemnitz gelegene Räumlichkeiten zum Betrieb eines Einzelhandelsgeschäfts für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs. Aufgrund des sich im März 2020 in Deutschland verbreitenden SARS-CoV-2-Virus (Corona-Pandemie) erließ das Sächsische Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt am 18. März 2020 eine Allgemeinverfügung, nach deren Ziffer 1 in Sachsen grundsätzlich alle Geschäfte geschlossen wurden, soweit sie nicht unter die in der Allgemeinverfügung ausdrücklich benannten Ausnahmen fielen. Diese Allgemeinverfügung trat am 19. März 2020 um 0:00 Uhr in Kraft und wurde ab dem 22. März 2020, 0:00 Uhr von einer weiteren Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 ersetzt, nach deren Ziffer 2, übereinstimmend mit der Allgemeinverfügung vom 18. März 2020, Geschäfte grundsätzlich geschlossen wurden, soweit nicht die in der Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 formulierten Ausnahmen eingriffen. Aufgrund der genannten Allgemeinverfügungen musste die Beklagte ihr Textileinzelhandelsgeschäft im Mietobjekt vom 19. März 2020 bis einschließlich 19. April 2020 schließen. Infolge der behördlich angeordneten Betriebsschließung entrichtete die Beklagte für den Monat April 2020 keine Miete.

Die Beklagte wurde von dem Landgericht Chemnitz zur Zahlung der Miete i.H.v. 7.854,00 € für den Monat April 2020 verurteilt. Nach Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung von 3.720,09 € verurteilt. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass infolge des Auftretens der Corona-Pandemie und der staatlichen Schließungsanordnung auf Grundlage der Allgemeinverfügungen vom 18. und 20. März 2020 eine Störung der Geschäftsgrundlage des Mietvertrages i.S.d. § 313 Abs. 1 BGB eingetreten ist, die eine dahingehende Vertragsanpassung geboten hat, dass die Kaltmiete für die Dauer der angeordneten Schließung auf die Hälfte reduziert wird.

Gegen diese Entscheidung wendeten sich Klägerin und die Beklagte. Die Klägerin verlangte nach wie vor die volle Miete und die Beklagte verfolgte mit ihren vom Oberlandesgericht zugelassenen Revisionen weiterhin ihren Klageabweisungsantrag.

Entscheidung | BGH XII ZR 8/21

Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten sind begründet. Sie führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückweisung der Sache an das Oberlandesgericht.

Nach Ansicht des BGH käme im Falle einer Geschäftsschließung, die aufgrund einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erfolgt, grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gem. § 313 Abs. 1 BGB in Betracht. Ein Ausschluss der Anwendbarkeit der mietrechtlichen Gewährleistungsvorschriften und Regelungen des allgemeinen Schuldrechts bestünde durch die für den Zeitraum vom 01. April 2020 bis 30. September 2022 geltenden Vorschrift des Art. 240 § 2 EGBGB nicht. Die Vorschrift beschränke allein das Kündigungsrecht des Vermieters und sage nichts über die Höhe der geschuldeten Miete aus.

Eine Minderung der Miete nach § 536 Abs. 1 BGB scheide jedoch aus, da die auf den Allgemeinverfügungen des Sächsischen Staatsministeriums beruhende Betriebsschließung kein Mangel des Mietgegenstandes im Sinne des § 536 Abs. 1 BGB sei. Für einen Mangel sei Voraussetzung, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjekts in Zusammenhang stehe. Eine behördlich angeordnete Betriebsschließung knüpfe jedoch an die Nutzungsart und den sich daraus ergebenen Publikumsverkehr an, der die Gefahr der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus darstellt und deshalb aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt werden sollte. Durch die Anordnungen sei jedoch weder der Beklagten die Nutzung der angemieteten Geschäftsräume noch der Klägerin rechtlich oder tatsächlich die Überlassung verboten worden. Zudem habe das Mietobjekt weiterhin für den vereinbarten Mietzweck zur Verfügung gestanden.

Weiterhin ergebe sich ein Mangel i.S.d. § 536 Abs. 1 BGB auch nicht aus dem vereinbarten Mietzweck der „Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs“, da die Beklagte nicht davon habe ausgehen können, dass die Klägerin durch eine konkrete Mietzweckvereinbarung eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer derartigen Allgemeinverfügung übernehmen wollte.

Der Mieter könne in so einem Fall jedoch grundsätzlich ein Anspruch aus § 313 Abs. 1 BGB zustehen, da hier die sogenannte große Geschäftsgrundlage betroffen sei, d.h. es sind die Erwartungen der vertragsschließenden Parteien dahingehend betroffen, dass sich die grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrages nicht ändern sowie das die Sozialexistenz nicht erschüttert wird. Durch die erzwungene Schließung sei diese Erwartung der Parteien schwerwiegend gestört worden.

Weitere Voraussetzung für einen Anspruch aus § 313 Abs. 1 BGB sei laut BGH, dass dem betroffenen Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden könne. Bei dem staatlichen Eingriff zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie habe sich das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht, das nicht nur von einer Vertragspartei zu tragen sein dürfe. Jedoch sei auch bei Vorliegen dieser Voraussetzung stets eine umfassende Abwägung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls ohne Pauschalierung erforderlich. Bei der Abwägung sei insbesondere zu berücksichtigen, welche Nachteile dem Mieter durch die Geschäftsschließung und deren Dauer entstanden sind. Dabei ist das auf konkret betroffene Mietobjekt und nicht auf einen möglichen Konzernumsatz abzustellen. Nicht erforderlich sei eine tatsächliche Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters. Weiterhin sei bei der Abwägung zu berücksichtigen, welche Möglichkeiten der Mieter hatte und auch genutzt hat, um drohende Verluste während der Geschäftsschließung zu mindern.

Bei der Prüfung der Unzumutbarkeit seien zudem etwaige finanzielle Vorteile des Mieters aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile zu berücksichtigen. Ebenso seien Leistungen einer einstandspflichtigen Betriebsversicherung zu berücksichtigen. Da es sich bei staatlichen Unterstützungsmaßnahmen auf Basis eines Darlehens um keine endgültige Kompensation der erlittenen Umsatzeinbußen handele, seien diese von der Abwägung ausgenommen.    

Unabhängig von den genannten Punkten seien zudem die Interessen des Vermieters bei der Abwägung zu berücksichtigen.

Praxishinweis | BGH XII ZR 8/21

Noch zu Beginn der Pandemie wurde durch viele Stimmen eine Anpassung der Miete mit Hinweis auf das Verwendungsrisiko des Mieters abgelehnt. Seit dem zweiten Lockdown und mit der Einführung der Vermutungsregel in Art. 240 § 7 EGBGB wurden die Anwendung und die Rechtsfolgen einer Störung der Geschäftsgrundlage gem. § 313 Abs. 1 BGB in derartig gelagerten Fällen diskutiert. Bisher gingen die Meinungen von Literatur und Rechtsprechung dahingehend, unter welchen Voraussetzungen einem Mieter das Festhalten an dem unveränderten Mietvertrag nicht zugemutet werden kann, weit auseinander. Diese Frage hat der BGH mit dem besprochenen Urteil nun weitestgehend beantwortet, auch wenn weiterhin individuelle Lösungen zwischen Vermieter und Mieter getroffen werden müssen.