OLG Hamm 10 U 19/21
Keine Sittenwidrigkeit eines Pflichtteilserlasses eines behinderten Sozialleistungsempfängers

29.07.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG Hamm
09.11.2021
10 U 19/21
RNotZ 2022, 169

Leitsatz | OLG Hamm 10 U 19/21

Ein nach dem Erbfall vereinbarter Pflichtteilserlass eines behinderten Sozialleistungsempfängers ist nicht sittenwidrig; die Grundsätze des BGH zur Wirksamkeit von Pflichtteilsverzichtsverträgen gem. § 2346 Abs. 2 BGB sind insoweit übertragbar. (nichtamtl. Ls.)

Sachverhalt | OLG Hamm 10 U 19/21

Die Beklagte war die Ehefrau des Erblassers. Gegen sie macht der Kläger im Wege der Stufenklage Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche aus übertragenem Recht nach dem am 24.02.2017 verstorbenen Erblasser geltend. Die Eheleute hatten zwei Kinder, L und BA. BA ist seit seiner Geburt in seinen kognitiven und mnestischen Fähigkeiten eingeschränkt und arbeitete nach seinem Hauptschulabschluss in der Behindertenwerkstatt.

Nach dem am 29.08.1988 errichteten gemeinschaftlichen Testament der Eheleute ernannten sie sich gegenseitig zu Alleinerben und den Sohn L zum Schlusserben. Die Beklagte nahm die Erbschaft nach dem Tod des Erblassers an. Der Sohn BA zog am 03.02.2018 in einen stationären Wohnbereich und die Beklagte zog im Sommer 2018 in eine ambulant betreute Wohneinrichtung. Außerdem wurde für den Sohn BA eine gesetzliche Betreuung für die Bereiche Gesundheitsfürsorge, Vermögensangelegenheiten und Wohnungsangelegenheiten angeordnet. Er erhielt seit dem 01.02.2018 vom Kläger Sozialhilfe in Form von stationärer Eingliederungshilfe und Hilfe zum Lebensunterhalt i.H.v. 1.371,66 Euro.

Die Beklagte veräußerte mit notariellem Vertrag vom 03.07.2018 das zum Nachlass gehörende Wohnhaus zu einem Preis von 235.000,00 Euro. Zudem erklärte der BA ebenfalls mit notariellem Vertrag gegenüber der Beklagten den Verzicht auf Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche. Diese Ansprüche leitete der Kläger durch Bescheid vom 04.02.2020 auf sich über. Der Kläger forderte sodann mit anwaltlichem Schreiben vom 10.02.2020 von der Beklagten Auskunft über den Nachlass. Anschließend machte er die Ansprüche aus übergeleitetem Recht anhängig und begehrte auf erster Stufe Auskunft über den Bestand des Nachlasses. Nachdem die Beklagte zur Auskunftserteilung verurteilt wurde, legte sie Berufung ein.

Entscheidung | OLG Hamm 10 U 19/21

Die Berufung ist zulässig und begründet, weshalb die Stufenklage insgesamt abzuweisen sei.

Der Kläger habe keinen Anspruch auf Auskunftserteilung aus übergeleitetem Recht, da B als Leistungsempfänger rechtswirksam auf etwaige Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche nach seinem Vater verzichtet hat. Der am 11.06.2019 geschlossene Pflichtteilsverzichtsvertrag in Form eines Erlassvertrages i.S.d. § 397 BGB sei rechtsgültig. Die Vereinbarung sei auch nicht gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig. Die Grundsätze des BGH zur Wirksamkeit von Pflichtteilsverzichtsverträgen gemäß § 2346 Abs. 1 BGB sei auf den Erlass von Pflichtteilsansprüchen durch einen pflichtteilsberechtigten Leistungsempfänger übertragbar. Danach könne mit Blick auf den Grundsatz der Privatautonomie die Wirksamkeit einer Vereinbarung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen versagt werden. Dann müsse jedoch die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts, nicht etwa dessen Rechtsfertigung begründet werden. Allein aus dem im Sozialhilferecht verankerten Nachranggrundsatz ergebe sich nicht automatisch die Sittenwidrigkeit. Vielmehr hält das Gericht fest, dass dieser Grundsatz schon im Sozialrecht in erheblichem Maße durchbrochen werde. In Bezug auf Leistungen für behinderte Menschen sei der Einsatz eigenen Vermögens auf das Zumutbare begrenzt und vor allem die Überleitung von Unterhaltsansprüchen nur in beschränktem Umfang möglich. Im Einklang mit dem BGH vertritt der Senat die Ansicht, dass der Nachranggrundsatz mit dem gegenläufigen Prinzip des Familienlastenausgleichs vereinbar sein muss, nach welchem die mit der Versorgung verbundenen wirtschaftlichen Lasten, die im Falle behinderter Kinder besonders groß ausfallen, zu einem gewissen Teil endgültig von der Allgemeinheit getragen werden soll.

Außerdem ergebe sich die Sittenwidrigkeit nicht daraus, dass der Leistungsempfänger selbst und erst auch dem Erbfall tätig wird. Vielmehr stehen dem Leistungsempfänger diesbezüglich der Grundsatz der Privatautonomie und der Grundgedanke der Erbfreiheit zur Seite. Darüber hinaus hätten die Eltern die vorliegende Situation auch durch eine testamentarische Gestaltung herbeiführen können. Denn hätten die Eltern dem behinderten Nachkommen bereits beim ersten Erbfall eine Miterbenstellung eingeräumt, hätte der Sozialhilfeträger nur bei einer Ausschlagung der Erbschaft auf den Pflichtteilsanspruch zugreifen können. Außerdem solle der Pflichtteilserlass auch die finanzielle Versorgung der Beklagten nach dem Tod des Erblassers gewährleisten. Eine Unwirksamkeit gemäß § 105 Abs. 1 BGB könne schon nicht angenommen werden, da es an einem hinreichend substantiierten Vortrag des Klägers zur Geschäftsunfähigkeit des Leistungsempfängers zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses fehle.

Praxishinweis | OLG Hamm 10 U 19/21

Die Entscheidung des Senats baut auf einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2011 auf, welche einen Pflichtteilsverzicht eines behinderten Leistungsbeziehers i.S.d. § 2346 Abs. 2 BGB nicht grundsätzlich als sittenwidrig ansieht. Die Entscheidung verdeutlicht somit, dass Vereinbarungen nur aufgrund höherrangiger Wertungen ausnahmsweise unwirksam sind, was auch für den behinderten Leistungsempfänger gilt. Denn das Gericht hebt hervor, dass gewisse finanzielle Lasten von der Allgemeinheit getragen werden sollen. Auch die Tatsache, dass eine Vereinbarung erst nach dem Erbfall getroffen wird, steht der Wirksamkeit grundsätzlich nicht entgegen. Ungeklärt bleibt weiterhin, ob die Grundsätze der Entscheidung auch auf bedürftige, nicht behinderte, Sozialhilfeempfänger übertragbar sind.