EuGH C-433/21, C-434/21
Keine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit durch Verwendung einer Mantelgesellschaft zwecks Steuervermeidung bei Kontrolle über ausländische Gesellschaften („Contship Italia“)

01.02.2023

Leitsatz | EuGH C-433/21, C-434/21

Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach der Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nur Gesellschaften erfasst, deren Anteile auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, wohingegen andere - nationale oder ausländische - Gesellschaften, deren Anteile nicht auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, die aber von an regulierten ausländischen Märkten notierten Gesellschaften und Einheiten kontrolliert werden, vom Geltungsbereich dieses Ausschlussgrundes ausgenommen sind.

Sachverhalt | EuGH C-433/21, C-434/21

Borgo Supermercati war eine nach italienischem Recht gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die zu 100% von der in Deutschland börsennotierten Eurokai KGaA gehalten wurde. In den Steuerjahren 2004 und 2005 war Borgo Supermercati eine „reine Holding“, da sie ausschließlich ihre Beteiligung am Kapital der Mika Srl verwaltete, deren einzige Anteilseignerin sie war. Die Finanzverwaltung vertrat in zwei Steuerbescheiden für die Jahre 2004 und 2005 die Auffassung, dass Borgo Supermercati nach Art. 30 des Gesetzes Nr. 724/1994 die Kriterien erfülle, um als Mantelgesellschaft angesehen zu werden. Demnach setzte sie steuerpflichtiges Einkommen für die IRES (= Körperschaftsteuer) unter Berücksichtigung des Wertes der 100%-igen Beteiligung am Kapital von Mika fest.

Borgo Supermercati erhob gegen die beiden Steuerbescheide beim Finanzgericht Klagen, die in vollem Umfang abgewiesen wurden. Hiergegen legte Borgo Supermercati Berufungen ein, die teilweise Erfolg hatten. Das entsprechende Gericht stellte fest, dass Borgo Supermercati im betreffenden Steuerjahr von einer in Deutschland börsennotierten Gesellschaft gehalten worden sei. Dies erlaube es, den Ausschlussgrund der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften, dessen Geltungsbereich auf unmittelbar am regulierten italienischen Markt notierte Gesellschaften beschränkt gewesen sei, auf Borgo Supermercati zu erstrecken, Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994. Diese weite Auslegung sei geboten, da es vernünftig und angebracht sei, den Ausschlussgrund im Einklang mit dem Diskriminierungsverbot auszulegen, obwohl der Gesetzgeber eine Ausdehnung des Geltungsbereichs erst mit der Reform durch das Gesetz Nr. 296/2006 vorgesehen habe.

Die Finanzverwaltung und Contship, die inzwischen Borgo Supermercati übernommen hatte, legten gegen die Entscheidungen Kassationsbeschwerden ein.

Contship machte geltend, dass die Gesellschaft deutschen Rechts nach einer kohärenten Auslegung den „Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten italienischen und ausländischen Märkten gehandelt werden“ i.S.v. Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 hätte gleichgestellt werden müssen. Damit wäre die Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nicht auf ihre Tochtergesellschaft anwendbar gewesen. Eine andere Auslegung führe zur Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit der kontrollierenden Einheit und verletze die Niederlassungsfreiheit sowie die wirtschaftliche und unternehmerische Freiheit innerhalb der EU.

Der Kassationsgerichtshof hat sich die Frage gestellt, ob Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 zu einer Diskriminierung im eigentlichen Sinne zwischen den Gesellschaften, die am italienischen Markt und solchen, die an ausländischen Märkten notiert sind, führt. Zum anderen könne es zu einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kommen, wenn der Ausschlussgrund nicht auf an ausländischen Märkten notierte Gesellschaften ausgedehnt würde. Dies hätte eine abschreckende Wirkung für Gesellschaften, die zwar weder einen Sitz noch eine Betriebsstätte in Italien hätten, aber gleichwohl beabsichtigten, dort durch die Kontrolle von gebietsansässigen Gesellschaften die Freiheit der Zweitniederlassung auszuüben. Daher hat der Kassationsgerichtshof beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen die Art. 18 und 49 AEUV einer nationalen Regelung entgegen, die, wie Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 in seiner zeitlich vor den Änderungen durch das Gesetz Nr. 296/2006 anwendbaren Fassung, von der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nur Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten italienischen Märkten gehandelt werden, nicht aber Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten ausländischen Märkten gehandelt werden, sowie Gesellschaften, die diese notierten Gesellschaften und Einheiten kontrollieren oder - auch indirekt - von ihnen kontrolliert werden, ausnimmt?

Entscheidung | EuGH C-433/21, C-434/21

Die italienische Regierung hält die Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil die gestellte Frage rein hypothetisch sei. Allerdings entscheidet ausschließlich das befasste nationale Gericht über die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung und die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen. Der Gerichtshof ist grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Zwar hat Contship nie selbst Anteile ausgegeben, der Ausschlussgrund des Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 könnte aber diskriminierend sein, weil Tochtergesellschaften von Gesellschaften, die am italienischen Markt notiert sind und solche, die an ausländischen Märkten notiert sind, ungleich behandelt werden. Außerdem geht es um die Frage, ob die Regelung eine abschreckende Wirkung hat. Somit steht die erbetene Auslegung in Zusammenhang mit den Ausgangsrechtsstreitigkeiten, die Vorabentscheidungsersuche sind zulässig.

Art. 18 AEUV kann als eigenständige Grundlage nur angewendet werden, wenn der AEU-Vertrag kein besonderes Diskriminierungsverbot vorsieht. Im Bereich der Niederlassungsfreiheit ist das Diskriminierungsverbot aber durch Art. 49 AEUV umgesetzt worden, weshalb nur dieser Artikel auszulegen ist.

Die Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, soll die Inländerbehandlung der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten und der in Art. 54 AEUV genannten Gesellschaften im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen und verbietet bei Gesellschaften jede Diskriminierung aufgrund des Sitzes. Insoweit sind nicht nur offene Diskriminierungen verboten, sondern auch alle verdeckten Formen, die durch Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen.

Eine nationale Regelung, die für die Festsetzung des steuerpflichtigen Einkommens nach dem Ort unterscheidet, an dem die betreffenden Anteile gehandelt werden, kann unter ein solches Verbot fallen. Vorliegend erfasste die Ausnahme gem. Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 jedoch nur Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile selbst auf regulierten italienischen Märkten gehandelt werden. Daher ist es unerheblich, ob eine Gesellschaft die Tochtergesellschaft einer in Italien oder im Ausland notierten Muttergesellschaft ist.

Da Contship nie Anteile auf dem regulierten italienischen Markt ausgegeben hatte, wurde sie nicht von dem in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehenen Ausschlussgrund erfasst. Contship hätte sich also auch dann nicht darauf berufen können, wenn sie von einer in Italien notierten Gesellschaft kontrolliert worden wäre. Somit begründet die Anwendung von Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 keine Ungleichbehandlung zwischen einer Gesellschaft, die von einer an einem ausländischen Markt notierten Muttergesellschaft gehalten wird, und einer Gesellschaft, die von einer am italienischen Markt notierten Muttergesellschaft gehalten wird.

Art. 49 AEUV steht aber auch jeder nationalen Maßnahme entgegen, die geeignet ist, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Dies wäre möglich, wenn ein Unternehmen davon abgehalten werden kann, untergeordnete Einheiten in anderen Mitgliedstaaten zu gründen und seine Tätigkeiten über solche auszuüben. Der fragliche Ausschlussgrund gem. Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 findet aber nur auf Tochtergesellschaften Anwendung, die selbst am Markt notiert sind. Somit wird für eine günstige steuerliche Behandlung der Tochtergesellschaften nicht vorausgesetzt, dass die Muttergesellschaften am nationalen Markt börsennotiert sind. Folglich kann sich auch keine abschreckende Wirkung für an ausländischen Märkten notierte Muttergesellschaften ergeben.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach der Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nur Gesellschaften erfasst, deren Anteile auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, wohingegen andere - nationale oder ausländische - Gesellschaften, deren Anteile nicht auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, die aber von an regulierten ausländischen Märkten notierten Gesellschaften und Einheiten kontrolliert werden, vom Geltungsbereich dieses Ausschlussgrundes ausgenommen sind.

Praxishinweis | EuGH C-433/21, C-434/21

Der EuGH hat klargestellt, dass Art. 18 AEUV nur anwendbar ist, wenn kein spezielleres Diskriminierungsverbot vorliegt. Dementsprechend legt er vorliegend allein die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 AEUV als spezielles Diskriminierungsverbot aus. Für einen Verstoß reicht es hier bereits, wenn eine Norm abschreckende Wirkung hat oder die Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv macht. Die in Frage stehende Norm knüpft aber eine eventuelle steuerliche Begünstigung allein an die Notierung der entsprechenden Tochtergesellschaft am italienischen Markt an. Somit kommt es nur auf die Tochtergesellschaft an, eine Ungleichbehandlung zwischen einer Gesellschaft, die von einer an einem ausländischen Markt notierten Muttergesellschaft gehalten wird, und einer Gesellschaft, die von einer am italienischen Markt notierten Muttergesellschaft gehalten wird, besteht nicht. Dadurch ergibt sich auch keine abschreckende Wirkung für an ausländischen Märkten notierten Muttergesellschaften.