BAG 1 ABR 43/18
Gesondertes Wahlverfahren für Arbeitnehmervertreter bei Umwandlung mitbestimmter AG in SE

23.02.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BAG
23.03.2023
1 ABR 43/18
NZG 2023, 1235

Leitsatz | BAG 1 ABR 43/18

Wird eine nach § 7 I 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmte Aktiengesellschaft deutschen Rechts in eine SE mit dualistischem System umgewandelt, muss in der Beteiligungsvereinbarung ein gesondertes Wahlverfahren für – von in der SE und ihren Tochtergesellschaften vertretenen Gewerkschaften – vorgeschlagene Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat für alle Arbeitnehmer der SE und ihrer Tochtergesellschaften vorgesehen sein.

Sachverhalt | BAG 1 ABR 43/18

Die Arbeitgeberin war ursprünglich eine Aktiengesellschaft deutschen Rechts, in der das Mitbestimmungsgesetz galt. Sie hatte einen 16-köpfigen Aufsichtsrat gebildet, jeweils zur Hälfte aus Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmenden. Auf Arbeitnehmerseite befanden sich 6 Arbeitnehmer und zwei Vertreter, die von Gewerkschaften vorgeschlagen worden waren und in einem separaten Wahlgang bestimmt wurden.

Im Jahr 2014 erfolgte die Umwandlung der Arbeitgeberin in eine Societas Europaea (SE). Seitdem verfügt sie über einen Aufsichtsrat, der aus 18 Personen besteht und in gleicher Weise von Vertretern beider Seiten besetzt ist. Gemäß der Beteiligungsvereinbarung nach dem SEBG, die zwischen der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium abgeschlossen wurde, besteht die Möglichkeit, den Aufsichtsrat auf zwölf Mitglieder zu verkleinern. Falls von dieser Option Gebrauch gemacht wird, behalten die Gewerkschaften das Recht, Vorschläge für Aufsichtsratsmitglieder der Beschäftigten zu machen. Es findet jedoch keine separate Abstimmung mehr statt, um sicherzustellen, dass zwei Sitze im Aufsichtsrat von Gewerkschaftsvertretern eingenommen werden.

Das BAG richtete ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, über welches dieser am 18.10.2022 entschied. Er bestätigte dort die Auffassung des BAG, dass diejenigen Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer, die deren Einflussnahme auf die Beschlussfassung der Gesellschaft „prägen“, in gleichwertigem Umfang auch in der SE erhalten bleiben müssen und dazu auch das gesonderte Wahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat gehöre.

 

Entscheidung | BAG 1 ABR 43/18

Das BAG muss nicht nach § 93 II i.V.m. § 65 ArbGG prüfen, ob der beschrittene Rechtsweg für die in Antrag 1 vorgebrachten angebrachten Begehren zulässig ist. Eine Prüfung wäre nur dann geboten gewesen, wenn die Vorinstanzen trotz ausdrücklicher Rüge hierüber nicht vorab entschieden hätten. Dies ist nicht der Fall. Außerdem ist der Rechtsweg tatsächlich insoweit eröffnet, wie sich der Antrag auf die Feststellung der Unwirksamkeit eines Teils der Beteiligungsvereinbarung bezieht. Denn Streitigkeiten, die die Wirksamkeit einer Beteiligungsvereinbarung betreffen, fallen gem. § 2a I Nr. 3e ArbGG in die ausschließliche Zuständigkeit der Arbeitsgerichte.

Der Feststellungsantrag ist nur teilweise zulässig. Es fehlt an feststellungsfähigen Rechtsverhältnis, soweit der Antrag darauf gerichtet ist, festzustellen, dass eine Verkleinerung des Aufsichtsrats der Arbeitgeberin auf zwölf Mitglieder unzulässig ist. Denn diese Frage bezieht sich nicht auf ein Rechtsverhältnis, sondern auf eine abstrakte Rechtsfrage. Zulässig ist jedoch der Antrag, der auf die Feststellung der Unwirksamkeit eines Teils der Beteiligungsvereinbarung gerichtet ist. Hierfür sind die Antragssteller auch antragsbefugt, da sie eigene Rechte geltend machen. Denn es geht ihnen um die Sicherstellung eines nach ihrer Ansicht durch § 21 VI 1 SEBG gewährleisteten exklusiven und damit durch einen getrennten Wahlgang abgesicherten, Vorschlagsrechts für Arbeitnehmervertreter in einem verkleinerten Aufsichtsrat der Arbeitgeberin. An der Klärung dieser Frage haben sie auch ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis, da die betroffene Regelung sie in ihrem Rechtskreis besonders trifft.

Der Antrag ist auch begründet, da die Bestimmungen in der Beteiligungsvereinbarung gegen § 21 Absatz 6 Satz 1 des SEBG verstoßen. Gemäß dieses Gesetzes muss im Falle der Gründung einer SE durch Umwandlung sichergestellt werden, dass die Vereinbarung bezüglich aller Aspekte der Arbeitnehmerbeteiligung das gleiche Maß an Schutz bietet wie in der Gesellschaft, die in eine SE umgewandelt wird. Dazu gehört auch die Durchführung einer separaten Wahl für Gewerkschaftskandidaten im Aufsichtsrat, sofern dies nach nationalem Recht, wie hier in §§ 16 und 7 des MitbestG, vorgeschrieben ist. Aus Gleichbehandlungsgründen müssen alle Mitarbeiter der SE und ihrer Tochtergesellschaften von dem separaten Wahlverfahren profitieren können. Zusätzlich sollte das Recht, einen bestimmten Anteil der Kandidaten für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat einer durch Umwandlung gegründeten SE vorzuschlagen, auf alle vertretenen Gewerkschaften in der SE und ihren Tochtergesellschaften ausgedehnt werden.

Die Verletzung von § 21 Abs. 6 SEBG führt zur Ungültigkeit des betreffenden Teils der Beteiligungsvereinbarung. Falls die konkrete Beteiligungsvereinbarung selbst keine Hinweise für eine ergänzende Auslegung des privatrechtlichen Kollektivvertrags sui generis bietet, ist eine solche Interpretation nicht möglich. Ebenfalls ist eine Rückgriffsmöglichkeit auf die sogenannte "Auffanglösung" ausgeschlossen, da eine "Vereinbarungslösung" aus unionsrechtlicher Sicht Priorität hat. Diese gibt den Kollektivparteien explizit Spielraum, um die Beteiligungsvereinbarung zu gestalten. Jedoch sollte es auch ohne entsprechende Regelung in der Beteiligungsvereinbarung möglich sein, neue Vereinbarungen auszuhandeln, die anstelle der ungültigen Bestimmungen treten.

 

Praxishinweis | BAG 1 ABR 43/18

Es ist zu beachten, dass die vorliegende Entscheidung die Gestaltungsfreiheit in Bezug auf die Beteiligungsvereinbarung bei Gründung einer SE durch Umwandlung erheblich einschränkt. Denn die Beteiligungsvereinbarung muss zwingend eine getrennte Wahl für die Gewerkschaftskandidaten vorsehen. Auch muss genau überprüft werden, welche Mitbestimmungsregeln in Beteiligungs- und Mitbestimmungsvereinbarungen übernommen werden müssen, wenn sie in der vormaligen Gesellschaftsform zwingend waren. Dies alles beschränkt die Attraktivität des SE unter deutscher Beteiligung.