OLG Hamburg 11 U 169/21
Eigenantrag führt zum Verzicht auf die Wirkungen des § 2 COVInsAG

19.04.2023

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG Hamburg
30.03.2022
11 U 169/21
GmbHR 2022, 979

Leitsatz | OLG Hamburg 11 U 169/21

Der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG ist dahin teleologisch zu reduzieren, dass die Vorschrift jedenfalls auf solche Rechtshandlungen keine Anwendung findet, die vorgenommen wurden, nachdem der Schuldner einen Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt und der Gläubiger hiervon Kenntnis erlangt hat.

(Leitsatz des Gerichts)

Sachverhalt | OLG Hamburg 11 U 169/21

Die Parteien streiten über die Rückgewähr von Beitragszahlungen an die Beklagte, eine gesetzliche Krankenkasse. Der Kläger ist der Sachwalter der Schuldnerin, über die am 4.8.2020 aufgrund Eigenantrags das Schutzschirmverfahren angeordnet wurde. Hiervon wurde die Beklagte am 14.8.2020 informiert. Grundlage der Anfechtungsansprüche sind Zahlungen der Schuldnerin an die Beklagte im Zeitraum vom 26. August bis zum 26. Oktober 2020.

Am 1.11.2020 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Kläger zum Sachwalter bestimmt. Mit Schreiben vom 3.11.2020 hat er die streitgegenständlichen Beitragszahlungen nach §§ 143 Abs. 1 S. 1, 129 Abs. 1, 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO angefochten. Die Beklagte führte im Wesentlichen die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG an, wonach bestimmte Rechtshandlungen nicht anfechtbar seien, wenn die Pflicht zum Antrag auf Insolvenz ausgesetzt sei. § 2 COVInsAG regelt die Rechtsfolgen, wenn die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags bedingt durch die COVID-19 Pandemie ausgesetzt ist. Die Beklagte führte aus, dass § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG auch solche Zahlungen erfasse, die nach Stellung eines Eigenantrags erfolgt seien.

Das LG gab der Klage statt.

Entscheidung | OLG Hamburg 11 U 169/21

Das OLG Hamburg stellte in seinem Hinweisbeschluss fest, dass die Berufung keine Aussichten auf Erfolg habe und riet zur Zurücknahme. Das LG habe der Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung stattgegeben.

Die Beklagte könne sich in Bezug auf die angefochtenen Zahlungen, die kongruente Deckungshandlungen dargestellt haben, nicht auf die Privilegierung § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG berufen, auch wenn der vorliegend einschlägige Anfechtungstatbestand des § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO grundsätzlich von der Vorschrift erfasst werde.

Die angefochtenen Zahlungen (nach dem 26. August 2020) fielen aber nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG, da das Insolvenzgericht auf den Eigenantrag der Schuldnerin hin schon am 4. 8.2020 ein Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO angeordnet habe. Hiervon sei die Beklagte von der Schuldnerin am 14. August 2020 informiert worden.

Der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG sei dahin teleologisch zu reduzieren, dass die Vorschrift jedenfalls auf solche Rechtshandlungen keine Anwendung finde, die vorgenommen wurden, nachdem der Schuldner einen Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt und der Gläubiger hiervon Kenntnis erlangt habe.

Eine solche Einschränkung sei zwar nicht bereits aus dem Wortlaut der Norm zu entnehmen. Es sei aber auch nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber angesichts der Kürze des Gesetzgebungsverfahrens von elf Tagen - die Ankündigung durch das BMJV erfolgte am 16. 3. 2022, die Verkündung am 27. 3. 2022 - in der Lage gewesen sei, alle eventuell möglichen Konstellationen zu bedenken. Das OLG Hamburg geht daher davon aus, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit überhaupt nicht gesehen habe, dass ein Schuldner auf die Privilegierung des 1 Abs. 1 S. 1 COVInsAG verzichtet. Es sei nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber sich bewusst dafür entschieden habe, die Privilegierungen des § 2 COVInsAG auch in diesem Fall zur Anwendung kommen zu lassen.

Darüber hinaus ergebe sich aus der Gesetzesbegründung, dass § 2 COVInsAG die Erreichung des durch die Aussetzung verfolgten Ziels absichern solle, „betroffenen Unternehmen unter den gegebenen Umständen die Möglichkeit zu geben, das Unternehmen fortzuführen und die Insolvenzlage zu beseitigen“ (BT-Drs. 19/18110, S. 23). Dies unterstreiche, dass § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG nicht dem Schutz der Gläubiger diene, sondern deren Privilegierung bloß als Reflex eintrete.

Praxishinweis | OLG Hamburg 11 U 169/21

In der Literatur (GWR 2022, 210 (Kittner); EWIR 2022, 435 (Harig); NJW-Spezial 2022, 471 (Dahl/Taras)) wird die Entscheidung begrüßt. Sie sei im Einklang mit der h.M. im Schrifttum und der Rechtsprechung (OLG München v. 20.10.2021 - 5 U 4809/21, ZIP 2022, 90) ergangen und stelle klar, dass durch Eigenanträge das Insolvenzverfahren von den Bestimmungen des COVInsAG nicht berührt werde. Die Entscheidung ist vor allem für Gläubiger positiv, denn diese haben bei Eigenantrag nun ausreichend Rechtssicherheit und können sich auf regulär laufende Insolvenzverfahren verlassen, die nicht von den Bestimmungen des COVInsAG berührt werden.

Von besonderer Relevanz ist diese Entscheidung, da einige Sozialversicherungsträger ihren Sitz in Hamburg haben und ggf. noch Sachverhalte aus dem Zeitraum der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nach § 1 COVInsAG bis 30.4.2021 offen oder rechtshängig sind.