OLG Stuttgart 8 W 64/21
Testamentsanfechtung wegen Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten

17.05.2023

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG Stuttgart
27.07.2021
8 W 64/21
ZEV 2022, 469

Leitsatz | OLG Stuttgart 8 W 64/21

  1. Ein Pflichtteilsberechtigter, der mit einem Vermächtnis bedacht wurde, ist auch dann nicht übergangen im Sinne von § 2079 Satz 1 BGB, wenn der Wert der Vermächtniszuwendung hinter dem Pflichtteil zurückbleibt.
  2. Das Fehlen der Voraussetzungen des § 2079 Satz 1 BGB schließt es nicht aus, eine Anfechtung auf § 2078 Abs. 2 BGB zu stützen.
  3. Das auf Irrtum beruhende Unterlassen der Errichtung eines (neuen) Testaments ist nicht nach § 2078 BGB anfechtbar.

(amtliche Leitsätze)

Sachverhalt | OLG Stuttgart 8 W 64/21

Der Erblasser verfasste im Jahr 2002 ein Testament und heiratete später seine Ehefrau. 2018 verstarb der Erblasser. Aus erster Ehe hatte er zwei Kinder. Das zuständige Nachlassgericht erteilte im November 2018 einen Erbschein der nach der gesetzlichen Erbfolge seine Ehefrau als Erbin zu ½ und die beiden Kinder aus erster Ehe aus Erben zu jeweils ¼ auswies. Nachdem der Erbschein erteilt worden war, fand eines der Kinder das Testament aus 2002. Darin hatte der Erblasser folgendes verfügt:

„1. Frau … … erhält 50.000 aus meinem Aktienbesitz sowie das Auto Smart … Darüber hinaus erhält Frau … Wohnrecht im … für 15 Jahre mietfrei. Wenn Sie die Wohnung nicht nutzen kann, kann sie sie vermieten. Selbstverständlich kann sie das Nutzungsrecht auch an die Kinder … und … verkaufen für 100.000.
2. Das übrige Vermögen wird zwischen den Kindern … und … aufgeteilt, und zwar je zur Hälfte.“

Daraufhin zog das Amtsgericht Esslingen den Erbschein als unrichtig ein. Die Ehefrau legte hiergegen in 2019 Beschwerde ein und hat das Testament wegen ihrer Übergehung nach § 2079 BGB angefochten. Demnach wird als Regelfall vermutet, dass der Erblasser bei Kenntnis der Sachlage den Pflichtteilsberechtigten nicht übergangen hätte. Weiterhin habe die Ehefrau den Erblasser erst nach Testamentserrichtung geheiratet und sei daher allein denklogisch in dem Testament übergangen worden. Weiterhin habe der Erblasser geplant sein Testament zu überarbeiten und sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, er sei aber ob seines plötzlichen Todes nicht mehr zur Umsetzung seiner Änderungswünsche gekommen. Sie trägt zudem vor, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Wert der Zuwendungen aus dem Testament und dem gesetzlichen Pflichtteil liegt.

Das Nachlassgericht half der Beschwerde nicht ab und legte die Angelegenheit dem OLG Stuttgart zur Entscheidung vor.

Entscheidung | OLG Stuttgart 8 W 64/21

Das OLG Stuttgart wies die Beschwerde als unbegründet ab, die Entscheidung des Nachlassgerichts den Erbschein einzuziehen sei korrekt gewesen. Die Erbfolge richte sich in diesem Falle nach dem Testament aus 2002, die Ehefrau sei darin nicht übergangen worden. Hier stellt sich nun die, in der Literatur und Rechtsprechung umstrittene Frage, wann eine durch den Erblasser bedachte Person übergangen worden ist.

Die herrschende Meinung insb. in der Rechtsprechung bejaht ein Übergehen nur dann, wenn der Pflichtteilsberechtigte weder enterbt noch als Erbe eingesetzt oder mit einem Vermächtnis bedacht ist.

Nach anderer Auffassung liegt ein Übergehen jedoch bereits dann vor, wenn der Bedachte im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung noch nicht zu den Pflichtteilsberechtigten zählte. Dann also die ihn begünstigende Verfügung/Zuwendung nicht im Hinblick auf seine Stellung als pflichtteilsberechtigter gesetzlicher Erbe getätigt wurde. Der Erblasser habe in einem solchen Fall dann die Rechtsposition des Erben bzgl. des Pflichtteils genauso wenig in seine Erwägungen einbezogen, als wenn er ihn überhaupt nicht bedacht hätte. Weil die Motivation in dem, von § 2079 BGB gemeinten Sinne unvollständig sei, entspräche es deshalb dem Telos der Norm, ein Übergehen auch dann anzunehmen, wenn die Zuwendung für den pflichtteilsberechtigten Erben einen geringeren Wert habe als der gesetzliche Erbteil gehabt hätte.

Der Senat folgte vorliegend der erstgenannten Ansicht. Der Wortlaut der Norm spreche nicht für eine Auslegung mit Anknüpfungspunkt an den Wert der Zuwendung im Vergleich zu dem gesetzlichen Erbteil. Es könne dem Erblasser nicht pauschal unterstellt werden, dass er seine, oftmals wohl überlegte, letzte Verfügung anders verfasst hätte wenn er den Umstand der späteren Hochzeit in seine Überlegungen einbezogen hätte.

Das Fehlen der Voraussetzungen des § 2079 S. 1 BGB schließt es nicht aus, dass eine Anfechtung dennoch auf § 2078 Abs. II BGB gestützt werden könne. In diesem Falle obliegt die Feststellungslast für das Vorliegen eines Willensmangels und dessen Erheblichkeit demjenigen der sich auf die Anfechtung beruft, also vorliegend der Ehefrau, die geltend macht dass der Erblasser einem Irrtum über seine künftige Rechtsstellung zu ihr unterlag.

Vorliegend war es bereits streitig, ob der Erblasser die Hochzeit mit der späteren Ehefrau in das Testament von 2002 einbezogen hatte, oder nicht. Der Erblasser hatte zwar immer wieder eine Änderung seines Testaments in Erwägung gezogen, am Ende aber nie durchgeführt – auch dies spreche dafür, dass er die ursprünglich niedergeschriebenen Zuwendungen beibehalten wollte. Weiterhin sei eine Kausalität eines solchen Irrtums für das Testament aus 2002 nicht vorhanden. Letztlich, so das Gericht, ist das auf Irrtum beruhende Unterlassen der Errichtung eines neuen Testaments nicht anfechtbar.

Praxishinweis | OLG Stuttgart 8 W 64/21

Das Gericht schloss sich der herrschenden Meinung hinsichtlich der Definition des „Übergehens“ i.S.d. § 2079 BGB an. Demnach kommt es dabei nicht auf die Wertdifferenz zwischen Pflichtteil und Zuwendung aus dem Testament an. Ein Fehlen der Voraussetzungen aus § 2079 S. 1 BGB schließt eine Anfechtung nach § 2078 Abs. II BGB nicht aus. Jedoch ist das auf Irrtum beruhende Unterlassen der Errichtung eines neuen Testaments nicht anfechtbar.

Der Ehefrau bleibt vorliegend nur die Möglichkeit, ihre Rechte nach § 2307 BGB geltend zu machen.