OLG München 31 AR 73/22
Bestimmung eines örtlich zuständigen Gerichts Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Erblassers Willensrichtung eines pflegebedürftigen Erblassers

11.10.2023

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG München
22.06.2022
31 AR 73/22
ZErb 2023, 105

Leitsatz | OLG München 31 AR 73/22

  1. Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Erblassers ist neben dem objektiven Moment des tatsächlichen Aufenthalts auch ein subjektives Element, nämlich ein Aufenthalts- bzw. Bleibewille, erforderlich (im Anschluss an OLG München, FGPrax 2017, 134).
  2. Die Willensrichtung des Erblassers stellt zwar einen im Rahmen der Gesamtbeurteilung der Lebensumstände zu berücksichtigenden, nicht aber den für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts allein prägenden Umstand dar (im Anschluss an OLG Hamm <15. Senat>, ZEV 2020, 634).
  3. Der Willensrichtung des Erblassers kann daher dann kein maßgebliches Gewicht beigemessen werden, sofern diese bei objektiver Betrachtungsweise nicht auf tragfähigen Grundlagen fußt.

 

Sachverhalt | OLG München 31 AR 73/22

Zwischen dem AG Heilbronn und dem AG München besteht Streit über die örtliche Zuständigkeit. Gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, Abs. 2 FamFG ist das OLG München für die Entscheidung über diesen Streit zuständig. Dies ergibt sich daraus, dass der BGH das gemeinschaftliche obere Gericht ist und das zuerst mit der Sache befasste AG München zum Bezirk des OLG München gehört.

Nach den Angaben der Beteiligten zu 1, 3, 4 und 5 (= Angehörige des Erblassers) lebte und arbeitete der Erblasser (E) von 1984 bis zum 16.10.2020 in M. Aufgrund einer Krebserkrankung war E geschwächt und konnte sich nicht mehr selbst versorgen, weshalb er sich am 16.10.2020 zu seinem Bruder und seiner Schwägerin (B1 und B4) begab. B1 und B4 pflegten E zunächst bei sich zu Hause. Einige Zeit später verstarb E im Krankenhaus. Obwohl E seine Wohnung in M. behielt und beabsichtigte, dorthin zurückzukehren, wenn er wieder gesund sei, konnte dies nicht verwirklicht werden, da keine Genesung eintrat und er nicht nach M. zurückkehrte.

Entscheidung | OLG München 31 AR 73/22

Nach der Europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO) ist der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes ein wesentliches Kriterium für die Zuständigkeit der Gerichte in Erbsachen (Art. 4 EuErbVO). Mit der Neufassung des § 343 Abs. 1 FamFG soll eine einheitliche örtliche Zuständigkeit der Gerichte für die Erteilung eines Erbscheins und eines Europäischen Nachlasszeugnisses nach der EuErbVO sichergestellt werden.

Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sind sowohl objektive Faktoren wie der tatsächliche Aufenthalt als auch subjektive Elemente wie der Aufenthalts- oder Bleibewille relevant. Letzteres ist notwendig, um Fragen des erzwungenen oder willenlosen Aufenthalts zu klären und Manipulationen des materiellen Erbrechts zu verhindern.

Im vorliegenden Fall hat der Erblasser (E) seinen gewöhnlichen Aufenthalt kurz vor seinem Tod verlegt. Unter Berücksichtigung der oben genannten Grundsätze und der Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers, einschließlich der Dauer und Regelmäßigkeit der Besuche, der engen Bindungen zu einem bestimmten Staat, der Sprachkenntnisse und der Vermögensverhältnisse, lag der gewöhnliche Aufenthalt des E im Zeitpunkt seines Todes im Bezirk des Amtsgerichts Heilbronn.

Auch wenn E aufgrund seiner Erkrankung beschloss, sein unabhängiges Leben in M. aufzugeben und sich in die Obhut seiner Verwandten in einer anderen Region zu begeben, erfüllte dieser Aufenthalt die Kriterien eines gewöhnlichen Aufenthalts. Dass dieser Aufenthalt nicht seinen Idealvorstellungen entsprach und er die Absicht hatte, im Falle seiner Genesung nach M. zurückzukehren, ist unerheblich. Der Aufenthaltswechsel sei nicht nur vorübergehend gewesen, sondern habe sich aus den medizinischen und pflegerischen Bedürfnissen des Erblassers sowie seinen sozialen Beziehungen zu seinen Verwandten in der neuen Region ergeben.

Die Absicht des Erblassers, im Falle seiner Genesung nach M. zurückzukehren, stehe der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in der neuen Region nicht entgegen. Der Rückkehrwille könne bei der Gesamtwürdigung der Lebensumstände berücksichtigt werden, habe aber für sich allein keinen Einfluss auf die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts. Im vorliegenden Fall war eine Rückkehr aufgrund der Schwere der Erkrankung objektiv unrealistisch und der Erblasser verstarb nach weniger als drei Monaten in der neuen Region.

 

Praxishinweis | OLG München 31 AR 73/22

Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Erblassers im Zeitpunkt seines Todes spielen sowohl objektive Faktoren wie der tatsächliche Aufenthaltsort als auch subjektive Faktoren wie der Aufenthalts- oder Bleibewille eine Rolle. Zu berücksichtigen sind die Gesamtumstände des Erblassers wie Dauer und Regelmäßigkeit der Besuche, Bindungen an einen bestimmten Staat, Sprachkenntnisse und Vermögensverhältnisse. Selbst wenn der Erblasser die Absicht hatte, an seinen ursprünglichen Aufenthaltsort zurückzukehren, kann ein Aufenthaltswechsel wegen Krankheit oder Pflegebedürftigkeit den gewöhnlichen Aufenthalt in einem neuen Gebiet begründen. Es empfiehlt sich daher, in erbrechtlichen Angelegenheiten die individuellen Umstände des Erblassers sorgfältig zu prüfen, um die richtige gerichtliche Zuständigkeit zu bestimmen.