Änderung der Rechtsgrundlagen für die Durchführung virtueller Hauptversammlungen – Probleme und mögliche Lösungen im Hinblick auf die virtuelle Hauptversammlung 4.0

I. Hintergrund

Im März 2020 wurde das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht beschlossen. Dieses enthält unter Art. 2 das Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie („GesRuaCOVBekG“).

Mit § 1 GesRuaCOVBekG wurden im Hinblick auf die Durchführung „virtueller Hauptversammlungen“ und die Umstände der COVID-19-Pandemie für Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien, Europäische Gesellschaften (SE) und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit zahlreiche Erleichterungen geschaffen. Da die Option einer virtuellen Hauptversammlung bereits seit dem ARUG I bestand, wurde damit ein Regelwerk zur virtuellen Hauptversammlung 2.0 eingeführt.

Ob durch die am 29.10.2020 in Kraft getretene Verordnung zur Verlängerung der Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (GesRGenRCOVMVV) bis zum 31.12.2021 letztlich ein neues Regelwerk für die virtuelle HV 3.0 geschaffen wurde, kann im Hinblick auf die gesetzliche Neuregelung mit dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht dahinstehen, da dieses die bisherigen Regelungen überholt.

Ab 28.02.2021 gilt nun das Modell der virtuellen Hauptversammlung 4.0.

 

II. Sinn und Zweck der Neuregelung

Mit der Neuregelung sollte unter anderem den Interessen von Kleinaktionären Rechnung getragen werden. So stand dabei insbesondere die Problematik des aktionärsrechtlichen Fragerechts im Rahmen virtueller Hauptversammlungen im Blick, da es sich hierbei um ein wichtiges Instrument der Kapitalmarktkontrolle handelt.

Nach der bisherigen Regelung des § 1 Abs. 2 S. 1 GesRuaCOVBekG (a.F.) sollte den Aktionären bei der Durchführung virtueller Hauptversammlungen lediglich eine Fragemöglichkeit im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt werden. Diese Fragemöglichkeit wurde im Rahmen der Neuregelung durch ein Fragerecht ersetzt.

Während der Vorstand zuvor gem. § 1 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 GesRuaCOVBekG (a.F.) „nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen“ entscheiden konnte, „welche Fragen er wie beantwortet“, verbleibt dem Vorstand nach der Neuregelung nur noch die Entscheidungsbefugnis über das „Wie“ der Beantwortung.

 

III. Unklarheiten und Probleme der Neuregelung

Die neuen Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung stellen die Praxis vor einige Fragen und Schwierigkeiten.

 

1. Einreichungsfrist

Gem. § 1 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 GesRuaCOVBekG kann der Vorstand vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind.

Während der Gesetzeswortlaut des § 121 Abs. 7 AktG im Falle börsennotierter Gesellschaften eindeutige und unabdingbare Vorgaben zur Fristberechnung macht, bleibt die Frage für alle übrigen Fälle offen.

Legt man die allgemeinen Grundsätze des AktG zugrunde, so wären bei der von der Versammlung zurückzuberechnenden Einreichungsfrist gem. § 121 Abs. 7 AktG sowohl der Tag der Versammlung als auch der letzte Tag der Frageneinreichung nicht mitzurechnen. Feiertage und Wochenenden blieben unberücksichtigt.

Im Ergebnis müsste daher nach der Neuregelung zwischen der Hauptversammlung und dem letztmöglichen Tag der Frageneinreichung ein voller Tag liegen.

Einer anderen Ansicht zufolge sei die Frist nach Stunden zu berechnen.

Angesichts dieser Unklarheit besteht der sicherste Weg in der Praxis wohl in der Berechnung der Frist nach der für die Aktionäre günstigsten Variante, mithin der Fristberechnung nach Stunden. Jedenfalls sollte unter Zugrundelegung der Systematik des AktG und im Sinne einer aktionärsfreundlichen Auslegung zwischen der Hauptversammlung und dem letztmöglichen Tag der Frageneinreichung mindestens ein voller Tag liegen.

 

2. Überlegungen zum neuen „Fragerecht“

Nach der alten Fassung des § 1 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 GesRuaCOVBekG lag die Entscheidung darüber, welche Fragen auf welche Weise im Rahmen der virtuellen HV beantwortet werden, im Ermessen des Vorstands. Dies ist nach der Neuregelung nicht mehr der Fall. Hiernach kann der Vorstand im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens nur noch darüber entscheiden, wie er die einzelnen Fragen der Aktionäre beantwortet. Diesen wurde nun ausdrücklich ein Fragerecht eingeräumt.

Dies stellt die Praxis vor die Frage, inwiefern und auf welche Weise dem zeitlichen Umfang der virtuellen Hauptversammlung gewisse Grenzen gesetzt werden können.

Allein durch die Setzung einer Einreichungsfrist lässt sich eine mögliche Frageflut der Aktionäre, die den Rahmen der virtuellen Hauptversammlung sprengen würde, nicht effektiv verhindern.

 

a) Schriftliche Beantwortung

Soweit der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung auf die Möglichkeit der schriftlichen Beantwortung von Fragen verweist, stellt dies insbesondere im Hinblick auf die Einreichungsfrist keine praktikable Lösung dar. Denn nach § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 AktG müssen schriftlich beantwortete Fragen über mindestens sieben Tage vor Beginn und in der Hauptversammlung auf der Internetseite der Gesellschaft durchgängig zugänglich sein. Vor dem Hintergrund der Einreichungsfrist für Fragen „bis spätestens einen Tag vor der Versammlung“ ist dies jedoch nicht möglich. Eine Ausnahme zu dieser Vorschrift wurde in der Neuregelung nicht vorgesehen.

An dieser Stelle ließe sich allenfalls diskutieren, ob mit der Einreichungsfrist implizit auch die 7-Tages-Frist des § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 AktG abbedungen werden sollte.

 

b) Gebündelte Beantwortung

Bei einem Aufkommen hinreichend verschiedener Fragen in großer Zahl vermag auch die Möglichkeit der gebündelten Beantwortung gleichartiger Fragen keine effektive Erleichterung verschaffen.

 

c) Zeitliche Obergrenze

Einen effektiveren Lösungsansatz bietet die Möglichkeit einer „zeitlichen Obergrenze“ für die Beantwortung von Fragen in der virtuellen Hauptversammlung.

Diese Lösung kollidiert nur auf den ersten Blick mit der neuen Antwortpflicht des Vorstands, denn an die virtuelle Hauptversammlung können im Ergebnis keine höheren Anforderungen gestellt werden als an die Präsenzhauptversammlung.

So ist das Auskunftsrecht der Aktionäre nach § 131 AktG auch in der Präsenzhauptversammlung neben den Verweigerungsgründen aus § 131 Abs. 3 AktG durch die Möglichkeiten der Redezeitbegrenzung, der Schließung der Rednerliste und der Schließung der Debatte durch den Versammlungsleiter begrenzt.

Hinsichtlich der Frage, welche zeitliche Obergrenze einer angemessenen Versammlungsdauer entspricht, lässt sich insofern auf die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zurückgreifen (vgl. BGH v. 8.2.2010 – II ZR 94/08; BVerfG v. 20.9.1999 – 1 BvR 636/95).

 

d) Kein allumfassendes Auskunftsrecht

Trotz der gesetzlichen Neuregelung, wonach der Vorstand nicht mehr über das „Ob“ der Beantwortung entscheiden darf, bestehen die Schranken des § 131 Abs. 3 AktG und der Erforderlichkeit nach dem Maßstab des „vernünftigen Durchschnittsaktionärs“ im Hinblick auf den betreffenden Tagesordnungspunkt fort.

 

3. Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG

Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neuregelung stellt sich weiterhin die Frage, ob infolge der Umstellung von der bloßen Fragemöglichkeit auf ein Fragerecht der Aktionäre auch die Möglichkeit des Auskunftserzwingungsverfahrens nach § 132 AktG eröffnet sein muss.

Dagegen spricht, dass das neue Fragerecht nach der Gesetzesbegründung dem Auskunftsrecht nicht gleichgestellt ist. Dafür spräche wiederum der auf die Stärkung der Aktionärsrechte gerichtete Sinn und Zweck der Neuregelung.

 

4. Ausschluss der Anfechtungsklage

Aufgrund des insoweit unveränderten Wortlauts des § 1 Abs. 7 GesRuaCOVBekG gilt der weitgehende Ausschluss der Anfechtungsklage gegen Hauptversammlungsbeschlüsse fort. Ziel dieser Regelung ist es zu verhindern, dass Gesellschaften aus Sorge vor Anfechtungsklagen die zur Durchführung virtueller Hauptversammlungen geschaffenen Erleichterungen nicht in Anspruch nehmen.

 

a) Interaktive Gestaltung der virtuellen Hauptversammlung

Die Frage, ob Aktionären im Wege einer interaktiven Gestaltung der virtuellen Hauptversammlung über das Fragerecht hinaus auch ein Nachfragerecht gewährt werden soll, führt unter Juristen und in der Praxis zu weiteren Diskussionen.

Ein Argument dafür wäre die mit der Neuregelung beabsichtigte Stärkung der Aktionärsrechte. Andererseits liefe die Herleitung einer Rechtspflicht zur Gewährung von Nachfragen der ebenfalls beabsichtigten Erleichterung virtueller Hauptversammlungen zuwider. Zudem stellt sich auch in diesem Zusammenhang das Problem der zeitlichen Begrenzung der Hauptversammlung.

 

b) Anträge von Aktionären

Dies gilt im Hinblick auf die Neufassung des § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG ebenso für Anträge von Aktionären.

Weder der Gesetzeswortlaut noch die Gesetzesbegründung geben einen Hinweis auf die Möglichkeit einer zeitlichen Einschränkung in Bezug auf die Behandlung rechtzeitig eingereichter Anträge von Aktionären. Unter Verweis auf die obigen Ausführungen zur Bestimmung einer zeitlichen Obergrenze müssten hierbei jedoch die gleichen Grundsätze Anwendung finden.

Hierbei stellt sich insbesondere die praktische Frage, ob die zeitliche Obergrenze bereits abstrakt im Voraus durch den Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats festgelegt werden muss oder ob eine solche auch situativ durch den Versammlungsleiter im Rahmen der virtuellen Hauptversammlung festgesetzt werden kann.

 

c) Geltung der Neuregelungen ab dem 28.02.2021

Gem. Art. 14 Abs. 3 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens treten die Neuregelungen für die Durchführung virtueller Hauptversammlungen am 28.02.2021 in Kraft.

Dies hat für die Praxis zur Folge, dass bereits einberufene Hauptversammlungen, die nach diesem Stichtag stattfinden sollen, im Zweifel formell abgesagt werden und unter Beachtung der neuen Rechtslage neu einberufen werden müssen. Hinsichtlich der Fristen kann hierbei jedoch ggf. auf die Abkürzungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 3 S. 2 GesRuaCOVBekG zurückgegriffen werden.

 

 

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