BGH XII ZB 515/22
Voraussetzungen für Betreuerbestellung trotz Vorsorgevollmacht des Betreuten

20.02.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
29.03.2023
XII ZB 515/22
ZEV 2023, 619

Leitsatz | BGH XII ZB 515/22

  1. Ein Bevollmächtigter ist ungeeignet, die Angelegenheiten des Betroffenen nach dessen Wünschen zu besorgen, wenn zu befürchten ist, dass er die Angelegenheiten des Vollmachtgebers nicht entsprechend der Vereinbarung oder dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Vollmachtgebers besorgt. Ergeben sich aus der Vereinbarung und dem erklärten Willen des Vollmachtgebers keine konkreten Vorgaben, kann der Betroffene seine Wünsche nicht mehr äußern und bestehen auch keine individuellen Anhaltspunkte für seinen mutmaßlichen Willen, richtet sich dieser nach seinen objektiven Bedürfnissen.
  2. Die Möglichkeit des Betreuungsgerichts, nach § 34 Abs. 2 FamFG von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen abzusehen, wenn dieser offensichtlich nicht in der Lage ist, seinen Willen kundzutun, entbindet das Gericht nicht von der in § 278 Abs. 1 S. 2 FamFG enthaltenen Verpflichtung, sich einen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu machen (im Anschluss an Senat v. 04.11.2020 – XII ZB 344/20, NJW 2021, 1881).
  3. Sind behebbare Mängel bei der Ausübung einer Vorsorgevollmacht festzustellen, erfordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundsätzlich zunächst den Versuch, mittels eines zu bestellenden Kontrollbetreuers auf den Bevollmächtigten positiv einzuwirken, insbesondere durch Verlangen nach Auskunft und Rechenschaftslegung (§ 666 BGB) sowie die Ausübung bestehender Weisungsrechte (Anschluss an Senat v. 08.01.2020 – XII ZB 368/19, ZEV 202o, 496 mAnm Litzenburger).
  4. Besteht die dringende Gefahr, dass ein Bevollmächtigter durch fehlende Bereitschaft zum Konsens mit anderen Bevollmächtigten nicht den Wünschen des Vollmachtgebers entsprechend handelt und dadurch die Person des Vollmachtgebers oder dessen Vermögen erheblich gefährdet, kann das Betreuungsgericht gem. § 1820 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 BGB anordnen, dass er die ihm erteilte Vollmacht insgesamt oder in bestimmten Angelegenheiten nicht ausüben darf. 

Sachverhalt | BGH XII ZB 515/22

Die 78-jährige Betroffene hat ihrer Tochter und ihrem Enkel bereits im Jahr 2006 Vorsorgevollmachten zur jeweils alleinigen Ausübung erteilt. Bis 2021 wurde sie in häuslicher Intensivpflege 24 Stunden täglich durch einen Pflegedienst im Haus des Enkels betreut. Auch ihr Enkel selbst übernahm Maßnahmen der Grundpflege. Am 03.08.2012 erstattete der Pflegedienst Strafanzeige gegen den Enkel der Betroffenen wegen der Misshandlung von Schutzbefohlenen aufgrund der Annahme einer lebensgefährdenden Manipulation am Beatmungsschlauch durch den Enkel. Am 16.08.2021 wurde die Betroffene durch eine vom Amtsgericht bestellte vorläufige Betreuerin in eine Intensivwohngemeinschaft verlegt. Am 11.02.2022 hat das Amtsgericht für die Betroffene eine Betreuung eingerichtet und die vorläufige Betreuerin zur Berufsbetreuerin der Betroffenen bestimmt.  

Das Landgericht hat die Beschwerden der Tochter und des Enkels zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Tochter.

Entscheidung | BGH XII ZB 515/22

Die Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zu einer Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

Das Landgericht hat verfahrensfehlerhaft von einer Anhörung der Betroffenen im Beschwerdeverfahren abgesehen.

Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung besteht nach § 68 Abs. 3 S. 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Es besteht zwar nach § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit von einer persönlichen Anhörung abzusehen. Dies gilt allerdings nicht, wenn neue Erkenntnisse zu erwarten sind, beispielsweise, wenn durch das Beschwerdegericht eine neue Tatsachengrundlage für seine Entscheidung herangezogen wird (Senat v. 06.04.2022 – XII ZB 451/21, FamRZ 2022, 1130). Hier hat das Beschwerdegericht seine Entscheidung ausdrücklich auch auf das erst im Beschwerdeverfahren eingeholte Sachverständigengutachten gestützt.

Das Beschwerdegericht durfte auch nicht mit der Begründung von einer persönlichen Anhörung absehen, dass die Betroffene offensichtlich nicht in der Lage sei, ihren Willen kundzutun. Nach § 34 Abs. 2 FamFG kann die persönliche Anhörung der Beteiligten zwar unterbleiben, wenn dies mit erheblichen gesundheitlichen Nachteilen verbunden wäre oder der Beteiligte zur Kundgabe seines Willens offensichtlich nicht mehr in der Lage ist. Dies entbindet das Gericht aber nicht, sich einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen, denn die für ein Absehen von der persönlichen Anhörung erforderlichen Gründe kann das Gericht nur feststellen, wenn es sich einen persönlichen Eindruck durch die unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Betroffenen verschafft hat. Schließlich dient die persönliche Anhörung nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs sondern auch als Grundlage für die gerichtliche Würdigung des Sachverständigengutachtens. § 278 Abs. 1 FamFG will verhindern, dass eine Betreuerbestellung ohne persönlichen Kontakt zwischen Gericht und Betroffenem durchgeführt wird. Aufgrund dieses rechtlichen Maßstabes durfte das Gericht auch im konkreten Fall nicht von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen absehen. Diese war zwar offensichtlich nicht mehr in der Lage, ihren Willen kundzutun. Dennoch war es für das Gericht nicht entbehrlich, sich einen persönlichen Eindruck von der Betroffenen zu verschaffen, denn im erstinstanzlichen Verfahren war eine Kontaktaufnahme lediglich durch den ersuchten Richter und somit keine unmittelbare Kontaktaufnahme zwischen dem entscheidenden Gericht und der Betroffenen erfolgt.

Darüber hinaus fehlte es an einer rechtlich tragfähigen Grundlage für die Bestellung eines Betreuers trotz des Vorliegens der wirksamen Vorsorgevollmachten. Nach § 1814 Abs. 3 S. 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden, wenn dies erforderlich ist. An der Erforderlichkeit fehlt es gem. § 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BGB, wenn die Angelegenheiten des Betroffenen auch durch einen Bevollmächtigten in gleichem Maße besorgt werden können. Daraus folgt, dass eine Vorsorgevollmacht der Bestellung eines Betreuers grundsätzlich entgegensteht. Es kann allerdings trotz wirksamer Vorsorgevollmacht eine Betreuung erforderlich sein, wenn der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen nach seinen Wünschen zu besorgen. Dies gilt insbesondere, wenn zu befürchten ist, dass der Bevollmächtigte entgegen einer entsprechenden Vereinbarung oder dem erklärten bzw. mutmaßlichen Willen des Vollmachtgebers handelt. Wenn sich weder aus einer Vereinbarung, dem erklärten Willen oder individuellen Anhaltspunkten Schlüsse auf die Wünsche des Vollmachtgebers ziehen lassen, richtet sich dessen mutmaßlicher Willen nach seinen objektiven Bedürfnissen. Den sich daraus ergebenden Handlungsmaximen kann der Bevollmächtigte nicht gerecht werden, wenn er aufgrund erheblicher Bedenken an seine Redlichkeit oder mangels Befähigung als ungeeignet erscheint.

Der Bevollmächtigte muss in der Lage sein, die Lebens- und Pflegebedürfnisse des Betroffenen zu erfüllen. Dabei ist zu beachten, dass die Auswahl des Bevollmächtigten dem Vollmachtgeber obliegt und seine Entscheidung grundsätzlich zu respektieren ist. Das gilt auch, wenn aus objektiver Sicht ein Betreuer die Angelegenheiten möglicherweise besser erledigen könnte. Im Fall der Hinzuziehung eines Pflegdienstes und des Leitenlassens von Vorschlägen des Pflegedienstes hinsichtlich der Planung und Organisation der pflegerischen Versorgung des Betroffenen kann der Bevollmächtigte nur als ungeeignet angesehen werden, wenn tragfähige Gründe dafür bestehen, dass er die Angelegenheiten des Betroffenen entgegen einer entsprechenden Vereinbarung oder dem erklärten bzw. mutmaßlichen Willen des Betroffenen besorgt.

Bestehen behebbare Mängel bei der Vollmachtsausübung gebietet es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass zunächst unter Zuhilfenahme eines Kontrollbetreuers versucht wird, positiv auf den Bevollmächtigten einzuwirken. Schließlich darf in dem Fall, dass mehrere Bevollmächtigte unterschiedliche Auffassungen über Fragen des Aufenthalts und der pflegerischen Versorgung vertreten und sich dadurch gegenseitig blockieren, nicht vorschnell ein Berufsbetreuer bestellt werden. Auch hier ist das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen zu beachten. Ein Kontrollbetreuer könnte verbindliche, an den Wünschen des Betroffenen orientierte, Weisungen erteilen, die der zwischen den Bevollmächtigten bestehende Konflikt aufzulösen ist. 

Praxishinweis | BGH XII ZB 515/22

Die Entscheidung reiht sich in eine Vielzahl ähnlicher Entscheidungen ein, in denen der BGH an die Bedeutung und Erforderlichkeit einer persönlichen Anhörung des Betroffenen auch im Beschwerdeverfahren erinnert. Sie betont den Vorrang des durch die Vorsorgevollmacht ausgedrückten Selbstbestimmungsrechts vor der Einrichtung einer Betreuung (Gojowczyk, BtR 2023, 87).