BGH II ZR 164/20
Vorsätzliche Insolvenzverschleppung als sittenwidrige Schädigung

14.12.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
27.07.2021
II ZR 164/20
GmbHR 2021, 1147

Leitsatz | BGH II ZR 164/20

  1. Die vorsätzliche Insolvenzverschleppung in der Absicht, das als unabwendbar erkannte Ende eines Unternehmens so lange wie möglich hinauszuzögern, erfüllt den Tatbestand einer sittenwidrigen Schädigung i.S.d. § 826 BGB, wenn dabei die Schädigung der Unternehmensgläubiger billigend in Kauf genommen wird.
  2. Der Schutzbereich einer vorsätzlich sittenwidrigen Insolvenzverschleppung erfasst Personen, die vor Insolvenzreife in Vertragsbeziehungen mit einer GmbH getreten sind und durch einen gegen die mittlerweile unerkannt insolvenzreife Gesellschaft eingeleiteten Rechtsstreit oder ein gegen diese eingeleitetes selbstständiges Beweisverfahren mit Kosten belastet werden, für die sie bei der Gesellschaft keinen Ersatz erlangen können.

 

Sachverhalt | BGH II ZR 164/20

Im Januar 2015 beauftragte der Kläger die S. GmbH, deren Geschäftsführer der Beklagte war, mit Fassadenarbeiten. Nach Abschlagszahlungen in Höhe von 13.000 Euro und ergebnislosen Fristsetzungen zur Erbringung der Werkleistung kündigte der Kläger den Vertrag und forderte Mangelbeseitigung und Rückzahlung von 11.000 Euro. Im August 2016 beantragte der Kläger das selbständige Beweisverfahren gegen die GmbH. Anfang Dezember 2016 erging gegen den Beklagten ein Strafbefehl wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung. Mitte Dezember 2016 stellte die GmbH einen Eigenantrag auf Insolvenzeröffnung. Im März 2017 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt. Im Mai 2017 erstattete der Sachverständige im selbständigen Beweisverfahren ein schriftliches Gutachten. Mit Schreiben vom Juni 2017 äußerte sich erstmals der Insolvenzverwalter der GmbH im selbständigen Beweisverfahren und erklärte, dass die Insolvenzmasse die Kosten für die Vergütung eines Sachverständigen nicht tragen könne.

Der Kläger begehrte von dem Beklagtem Erstattung von Gerichts-, Sachverständigen- sowie Rechtsanwaltskosten aus § 826 BGB. Vor dem LG als auch in der Berufungsinstanz vor dem OLG wurde der Beklagte zum beantragten Schadensersatz verurteilt.

Entscheidung | BGH II ZR 164/20

Der BGH wies die Revision des Beklagten ab. Der Kläger habe einen Anspruch auf Erstattung der klageweise geltend gemachten Kosten wegen vorsätzlich sittenwidriger Insolvenzverschleppung aus § 826 BGB. Der Beklagte hafte nach § 862 BGB, da er als Geschäftsführer der GmbH die ihn treffende Insolvenzantragspflicht vorsätzlich verletzt und den Kläger dadurch sittenwidrig geschädigt habe. Die Absicht, die nicht abwendbare Insolvenz eines Unternehmens so lange als möglich zu verzögern erfüllte den Tatbestand einer sittenwidrigen Schädigung, wenn dabei die Schädigung der Unternehmensgläubiger billigend in Kauf genommen werde. Der Beklagte müsse keine genaue Kenntnis darüber haben, welche oder wie viele Personen durch sein Verhalten geschädigt würden. Es reiche aus, dass er die Richtung, in der sich sein Verhalten zum Schaden irgendwelcher anderer auswirken könnte, und die Art des möglicherweise eintretenden Schadens vorausgesehen und mindestens billigend in Kauf genommen habe. Im zu entscheidenden Fall habe der Beklagte die Zahlungsunfähigkeit der GmbH erkannt und trotzdem keinen Insolvenzantrag gestellt. Somit habe er billigend in Kauf genommen, dass der Kläger einen kostenauslösenden Prozess, hier ein selbständiges Beweisverfahren, anstrengte. Die Einleitung des selbständigen Beweisverfahrens sei aus objektiver Sicht gerechtfertigt und der Kläger durch den vom Beklagten zu verantwortenden Fortbestand der insolventen GmbH herausgefordert worden, das Verfahren überhaupt einzuleiten.

Vom Schutzbereich einer vorsätzlichen sittenwidrigen Insolvenzverschleppung seien Personen erfasst, die vor Insolvenzreife in Vertragsbeziehungen mit der GmbH getreten seien und durch einen gegen die mittlerweile unerkannt insolvenzreife Gesellschaft eingeleiteten Rechtsstreit mit Kosten belastet würden, für die sie bei der Gesellschaft keinen Ersatz erlangen könne. Damit sei der Schutzbereich hier weiter als der der vorsätzlichen Insolvenzverschleppung nach § 15a Abs. 1 InsO. In den Schutzbereich würden hier auch Dritte einbezogen, die zuvor mit der Gesellschaft keine vertragliche Bindung eingegangen seien.

Praxishinweis | BGH II ZR 164/20

Diese Entscheidung ist für die Praxis höchst relevant. Entscheidungen des BGH zu Sittenwidrigkeit oder auch anderen unbestimmten Rechtsbegriffen dienen stets der Rechtssicherheit. In diesem Fall ist aber auch entscheidend, dass nun auch Altgläubiger möglicherweise schadensersatzberechtigt sind, wenn sie Schäden nach Eintritt der materiellen Insolvenz erleiden, sofern der Geschäftsführer gegen seine Antragspflicht verstößt. Sie haben die Möglichkeit, ihre Rechtsverfolgungskosten vollständig und schnell ersetzt zu bekommen, Ausschüttung einer Insolvenzquote in ferner Zukunft angewiesen zu sein.

Auch für Geschäftsführer ist diese Entscheidung nicht zu unterschätzen. Geschäftsführer sind bei einem vorsätzlich verzögertem Insolvenzantrag einer Haftung für vergeblich aufgebrachte Rechtsverfolgungskosten ausgesetzt, die ggf. nicht von ihrer D&O-Versicherung gedeckt ist.