OLG Schleswig 9 U 11/21
Überschuldung bei kurzem rechnerischem Negativsaldo, Verlustdeckungszusage, Haftung im qualifiziert faktischen GmbH-Konzern

22.07.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG Schleswig
29.09.2021
9 U 11/21
ZIP 2022, 899

Leitsatz | OLG Schleswig 9 U 11/21

  1. Legt der Insolvenzverwalter zum Nachweis der Überschuldung einer Gesellschaft eine Handelsbilanz vor, aus der sich Fehlbetrag ergibt, der nicht vom Eigenkapital gedeckt ist, hat er die Ansätze dieser Bilanz darauf zu überprüfen und zu erläutern, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige aus ihr nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind, um seiner Darlegungslast zu genügen.
  2. Eine rechnerische Überschuldung, die sich aus einem nicht von Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag in der Bilanz ergibt, stellt keine Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 64 S. 1 GmbHG aF dar, wenn der Fehlbetrag nur wenige Tage besteht und sodann von einer Konzerngesellschaft (vorliegend: Schwestergesellschaft) ausgeglichen wird.
  3. Im faktischen Konzern haftet die Mutter der Tochter-GmbH analog § 302 AktG, wenn Leitungsmacht im Sinne des § 308 AktG auf die Tochter-GmbH ausgeübt wird, ohne dass ein wirksamer Beherrschungsvertrag besteht.
  4. Die Verlustdeckungszusage des Mutterkonzerns ist als aktives Gesellschaftsvermögen bei der Tochter-GmbH zu berücksichtigen.

Sachverhalt | OLG Schleswig 9 U 11/21

Der Kläger nimmt als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin (einer GmbH) den Beklagten aus Geschäftsführerhaftung wegen Zahlungen nach Insolvenzreife in Anspruch.

Der Beklagte war faktischer und ab dem 25. Januar 2010 auch eingetragener Geschäftsführer der Schuldnerin, die einen Handel mit Paraffin betrieb. Die Schuldnerin war Teil eines Konzerns, der neben ihr aus einer Muttergesellschaft und einer Schwestergesellschaft bestand. Der Beklagte war Präsident des Verwaltungsrates von Mutter- und Schwestergesellschaft und war zu 54 % am Kapital der Muttergesellschaft beteiligt, die wiederum alleinige Aktionärin der Tochtergesellschaften war. In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 2009 zerstörte ein Großbrand den gesamten Betrieb der Schuldnerin.

Die Schuldnerin hatte im Jahr 2008 einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag in Höhe von ca. 21.000,00 Euro zu verzeichnen und im Jahr 2009 einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag in Höhe von ca. 8.000,00 Euro. Diese Fehlbeträge wurden von der Schwestergesellschaft binnen weniger Tage durch Zahlungen ausgeglichen und die Schuldnerin führte ihren Betrieb fort. Im Rahmen dieses Geschäftsbetriebs veranlasste der Beklagte Zahlungen, deren Ausgleich der Insolvenzverwalter der Schuldner nun verlangt. Auf den Antrag des Beklagten vom 29. August 2010 wurde am 8. November 2010 über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.

Entscheidung | OLG Schleswig 9 U 11/21

Die Berufung ist zulässig aber unbegründet. Zum Zeitpunkt der vom Beklagten veranlassten streitgegenständlichen Zahlungen bestanden keine Anhaltspunkte für eine Zahlungsunfähigkeit.

Den Insolvenzverwalter trifft im Rahmen der Geschäftsführerhaftung nach § 64 S. 1 GmbHG aF die Darlegungslast für den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit. Legt der Insolvenzverwalter nur eine Handelsbilanz vor, aus der sich eine Zahlungsunfähigkeit ergibt, hat er die Ansätze dieser Bilanz dahingehend zu erläutern, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige aus ihr nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind, die eine Zahlungsunfähigkeit verhindern. Genügt der Insolvenzverwalter seiner Darlegungslast, so trifft den in Anspruch genommenen Geschäftsführer eine sekundäre Darlegungslast bezüglich etwaiger stiller Reserven und sonstiger nicht in der Handelsbilanz abgebildeter Werte.

Das OLG Schleswig setzt für die Haftung nach § 64 S. 1 GmbHG aF eine dauerhafte Zahlungsunfähigkeit voraus, denn ein Unternehmen soll nicht deshalb in die Insolvenz gezwungen werden, weil es nur vorübergehend einen Fehlbetrag in der Bilanz aufweist. Eine solche dauerhafte Zahlungsunfähigkeit bestand zum Zeitpunkt der Zahlungen nicht. Denn der Fehlbetrag in der Bilanz der Schuldnerin wurde stets innerhalb weniger Tage von der Schwestergesellschaft ausgeglichen. Die Regelung des § 15a InsO, der lediglich ein Stellen des Eröffnungsantrags ohne schuldhaftes Zögern fordert, spricht ebenfalls dafür, einen kurzzeitig bestehenden Fehlbetrag nicht als Zahlungsunfähigkeit einzuordnen. Aus § 15a Abs. 1 S. 2 InsO leitet das OLG Schleswig ab, dass erst nach sechswöchigem Bestehen eines Fehlbetrags eine dauerhafte Zahlungsunfähigkeit eintritt.

Gegen eine dauerhafte Zahlungsunfähigkeit spricht ebenfalls die Verlustdeckungszusage der Muttergesellschaft, die als aktives Gesellschaftsvermögen zu berücksichtigen ist. Diese konnte von der Beklagten zwar nicht in Schriftform vorgelegt werden und wurde mutmaßlich bei dem Brand zerstört, doch aufgrund der engen personellen Verflechtungen innerhalb des Konzerns, so das OLG Schleswig, war die schriftliche Fixierung der Verlustdeckungszusage entbehrlich. Denn der Beklagte hätte als Mehrheitsaktionär der Muttergesellschaft, die alleinige Aktionärin der Schuldnerin und ihrer Schwestergesellschaft war, ohne weiteres die entsprechenden Beschlüsse herbeiführen können und kontrollierte die Geldflüsse im Konzern.

Auch schließt der Verlustausgleichsanspruch der Schuldnerin analog § 302 AktG eine dauerhafte Zahlungsunfähigkeit aus. Denn dieser ist ebenfalls als aktives Gesellschaftsvermögen zu berücksichtigen und gleicht einen etwaigen Fehlbetrag aus. Die Schuldnerin wurde von der Muttergesellschaft kontrolliert und faktisch als Dienstleisterin genutzt, die von Mutter- und Schwestergesellschaft mit Produktionsmitteln und Kapital am Leben gehalten wurde, wie das OLG Schleswig unter anderem aus den Geldflüssen innerhalb des Konzerns schließt. In einer Konzernierungsstruktur mit derart dichter Einflussnahme und ohne Beherrschungsvertrag (qualifiziert faktischer Konzern) besteht nach dem OLG Schleswig ein Verlustausgleichsanspruch analog § 302 AktG. Dieser Ausgleichsanspruch ist vom BGH als Analogie zu § 302 AktG im Rahmen der Trihotel-Rechtsprechung aufgegeben und nunmehr von § 826 BGB im Rahmen der Existenzvernichtungshaftung erfasst worden. Das OLG Schleswig begründet ihn mit Schutzlücken der Haftung nach § 826 BGB – leider ohne diese näher zu erörtern.

Praxishinweis | OLG Schleswig 9 U 11/21

Das OLG Schleswig begibt sich mit seinen Ausführungen zur analogen Anwendung des § 302 AktG im qualifiziert faktischen GmbH-Konzern auf ein Gebiet, das der BGH mit der Trihotel-Entscheidung verlassen hat. Ob das im Lichte der strukturellen Differenzen von AG und GmbH überzeugend ist, bleibt fragwürdig. Außerdem wäre eine Heranziehung des Anspruchs im konkreten Fall nicht nötig gewesen. Denn auch die (nicht formbedürftige) Verlustdeckungszusage des Mutterkonzerns verhindert hinreichend eine rechnerische Überschuldung. Der Heranziehung der Figur des qualifiziert faktischen Konzerns hätte es nicht bedurft. Für die Praxis ist das Signal dennoch klar: Für den BGH mag die Haftung im GmbH-Konzern analog § 302 AktG Geschichte sein, die Instanzgerichte jedoch schrecken womöglich nicht davor zurück, diese Figur weiterhin und womöglich neben der Existenzvernichtungshaftung des § 826 BGB anzuwenden.

Interessant für die Geschäftsführungspraxis ist auch, dass bei einer nur kurz währenden Überschuldung noch keine Geschäftsführerhaftung ausgelöst wird. Das ist insbesondere in Konzernierungssachverhalten relevant, in denen Gesellschaften als unprofitables Vehikel eingesetzt werden und vom Konzern am Leben gehalten werden.