EuGH C-677/20
Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter bei Rechtsformwechsel in SE

18.01.2023

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

EuGH
18.10.2022
C-677/20
NZA 2022, 1477

Leitsatz | EuGH C-677/20

Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG ist dahin auszulegen, dass die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft vorschreibt; im Zusammenhang mit diesem Wahlgang muss die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer dieser SE, ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe sowie der in ihnen vertretenen Gewerkschaften gewahrt sein.

Sachverhalt | EuGH C-677/20

Das BAG legt dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen zu Art. 4 IV RL 2001/86/EG vor. Im Ausgangsverfahren geht es um einen Rechtsstreit zwischen IG Metall und ver.di auf der einen und der SAP SE, sowie dem SE-Betriebsrat von SAP auf der anderen Seite bezüglich der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb von SAP.

Vor ihrer Umwandlung in eine SE hatte SAP die Rechtsform einer AG nach deutschem Recht und verfügte gemäß den nationalen Rechtsvorschriften über einen Aufsichtsrat, der aus acht Mitgliedern der Anteilseigner und acht Mitgliedern der Arbeitnehmer, davon sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften, bestand.

Die beiden Gewerkschaftsvertreter waren gem. § 16 Abs. 2 MitbestG von den im Konzern der SAP vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen worden und wurden in einem von den Wahlen der übrigen sechs Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang gewählt. Seit ihrer Umwandlung in eine SE im Jahr 2014 verfügt SAP über einen aus 18 Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat. Gemäß der zwischen SAP und dem dort gebildeten besonderen Verhandlungsgremium geschlossenen Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb von SAP (Beteiligungsvereinbarung) sind neun Mitglieder des Aufsichtsrats Arbeitnehmervertreter. Es findet jedoch kein getrennter Wahlgang mehr statt. Die Gewerkschaften verlangen ein ausschließliches, also durch einen getrennten Wahlgang abgesichertes Vorschlagsrecht für eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmervertretern im verkleinerten Aufsichtsrat.

Das BAG ist der Meinung, dass § 21 VI SEBG ein solches Recht der Gewerkschaften zu entnehmen sei. Dem EuGH wurde daher die Frage vorgelegt, ob § 21 IV SEBG, aus dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergebe, dass für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein gesondertes Wahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten sei, mit Art. 4 IV RL 2001/86/EG vereinbar sei.

Entscheidung | EuGH C-677/20

Der EuGH führt aus, dass er die Frage des BAG wie folgt verstehe, nämlich ob Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86 dahin auszulegen sei, dass die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer im Sinne dieser Bestimmung für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen müsse, sofern das anwendbare Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft vorschreibe. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH seien bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch Kontext und Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, sowie gegebenenfalls ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen. Nach dieser Auslegung seien vom Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG auch die Modalitäten des Wahlverfahrens umfasst. Für das Ausmaß der durch die Vorschrift gewährleisteten Arbeitnehmerbeteiligung seien die nationalen Rechtsvorschriften maßgebend. Regelten diese einen gesonderter Wahlgang als prägendes Element, sei dies auch unionsrechtlich zu gewährleisten.

Der EuGH stellt klar, dass allen Arbeitnehmern der durch Umwandlung gegründeten SE dieselben Rechte zustehen müssten, die den Arbeitnehmern der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft zustanden. Hieraus folge, dass im vorliegenden Fall sämtliche Arbeitnehmer von SAP - deren Tochtergesellschaften und Betrieben in der EU - das Wahlverfahren nach deutschem Recht in Anspruch nehmen können müssten, und zwar auch dann, wenn dieses Recht insoweit nichts vorsehe.

Praxishinweis | EuGH C-677/20

In der Literatur wird das Urteil kritisiert (Simon/Deuchler, NZA 2022, 1451; Arnold, ArbRAktuell 2022, 572). Die Entscheidung des BAG im Ausgangsverfahren und die Entscheidung des EuGH seien sehr zweifelhaft. Schon das BAG habe den Grundgedanken der europäischen Mitbestimmung stark strapaziert. Der EuGH weite dies nun noch mehr aus und entferne sich von der europäischen Idee der verhandelten Mitbestimmung. Die Entscheidung des EuGH liefere keinen Beitrag zur rechtssicheren Gestaltung von Beteiligungsvereinbarungen im Falle einer SE-Gründung durch formwechselnde Umwandlung.

Des Weiteren wird kritisiert, dass der EuGH keine Stellung genommen hat zu den Folgen der (materiellen) Teilunwirksamkeit von Beteiligungsvereinbarungen. Es ist zu hoffen, dass das BAG diese Frage aufgreift.