BGH V ZR 155/18
Kein Wegerecht durch jahrzehntelange Duldung

22.07.2020

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
24.01.2020
V ZR 155/18
NJW 2020, 1360

Leitsatz | BGH V ZR 155/18

  1. Gewohnheitsrecht kann als dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle allgemeiner Art nur zwischen einer Vielzahl von Rechtsindividuen und in Bezug auf eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen entstehen, nicht aber beschränkt auf ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn.
  2. In einem konkreten Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn kann ein Wegerecht nach dem BGB außerhalb des Grundbuchs nur aufgrund schuldrechtlicher Vereinbarung oder als Notwegerecht unter den Voraussetzungen des § 917 BGB entstehen.
  3. Die im Sinne von § 917 Abs. 1 S. 1 BGB ordnungsmäßige Benutzung eines Gewerbegrundstücks kann es nach den Umständen des Einzelfalls erfordern, dass auf dem verbindungslosen Grundstücksteil Kraftfahrzeuge be- und entladen sowie gegebenenfalls auch abgestellt werden, so dass eine Zufahrt erforderlich ist; dies setzt aber in der Regel voraus, dass das Grundstück nach seinen konkreten Verhältnissen eine gewerbliche Nutzung größeren Umfangs erlaubt.

Sachverhalt | BGH V ZR 155/18

Die Kläger sind Eigentümer dreier nebeneinander an einer öffentlichen Straße liegender Grundstücke. Im rückwärtigen Teil der Grundstücke befinden sich baurechtlich nicht genehmigte Garagen. Die Beklagte ist Eigentümerin von Grundstücken, auf denen sich ein Weg befindet. Über diesen erreichten die Kläger ihre Garagen und die rückwärtigen Grundstücksbereiche. Die Wegenutzung wurde jahrzehntelang durch frühere Eigentümer und nach der Übereignung auf die Beklagte zunächst auch durch diese geduldet. 2016 erklärte sie gegenüber den Klägern die „Kündigung des Leihvertrags über das zu Ihren Gunsten vor über 30 Jahren bestellte, schuldrechtliche Wegerecht“. Die Beklagte kündigte die Wegesperrung an und begann mit dem Bau einer Toranlage. Die Kläger meinen, ihnen stehe ein Wegerecht, hilfsweise ein Notwegerecht zu. Sie verlangen von der Beklagten, die Sperrung des Weges zu unterlassen.

Das LG Aachen gab der Klage statt, das OLG Köln wies die Berufung zurück.

Entscheidung | BGH V ZR 155/18

Die Revision hat Erfolg und führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Die lang andauernde Nutzung eines über ein Privatgrundstück führenden Weges zwischen einer öffentlichen Straße und einem Hinterliegergrundstück habe nicht zu einem örtlich geltenden Gewohnheitsrecht geführt, an das die Anwohner gebunden seien. Voraussetzung von Gewohnheitsrecht sei eine längere tatsächliche Übung, die eine dauernde, ständige, gleichmäßige und allgemeine ist und von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt werde. Gewohnheitsrecht setze eine abstrakt-generelle Regelung vor, die über den Einzelfall hinausgehe. Das Gewohnheitsrecht könnte sich nicht lediglich auf einzelne Rechtsverhältnisse beziehen.

In einem konkreten Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn könne ein Wegerecht nach dem BGB außerhalb des Grundbuchs nur durch schuldrechtliche Vereinbarung oder als Notwegrecht gem. § 917 BGB Entstehen. Lege man wie das Berufungsgericht einen weiten Begriff des Gewohnheitsrechts zugrunde, führe das im Ergebnis zu einer nicht im Grundbuch eingetragenen Grunddienstbarkeit. Den Erwerb einer nicht im Grundbuch eingetragenen Grunddienstbarkeit sehe das BGB jedoch nicht vor. Mit Schaffung des § 873 Abs. 1 BGB wollte der Gesetzgeber gerade das Entstehen einer ersitzbaren Dienstbarkeit ausschließen.

Als schuldrechtliche Vereinbarung käme allenfalls ein Leihvertrag gem. § 598 BGB in Betracht, dessen Zustandekommen jedoch nicht festgestellt werden konnte und der jedenfalls durch die Kündigung beendet worden wäre.

Sollten die Grundstücke von den Klägern allein zu Wohnzwecken genutzt werden, wird ein Notwegrecht ausscheiden. Für ein Notwegrecht müsse es an einer zur ordnungsmäßigen Benutzung notwendigen Verbindung mit einem öffentlichen Weg fehlen. Eine ordnungsmäßige Nutzung scheide bereits aus, da die Garagen baurechtlich nicht genehmigt und auch nicht genehmigungsfähig (mangels Erschließung) seien. Außerdem seien die Grundstücke unmittelbar an der öffentlichen Straße gelegen, sodass auch insoweit nicht aus Gründen der Bequemlichkeit oder Zweckmäßigkeit ein Notwegrecht geltend gemacht werden könne. Bei einer gewerblichen Nutzung scheide ein Notwegrecht zumindest bei einem kleineren Gewerbebetrieb aus, wenn die Grundstücke an einem öffentlichen Weg anliegen, die für kleinere Gewerbebetriebe erforderlichen Waren dort angeliefert und durch die Geschäfts- bzw. Ladenräume auf den hinteren Grundstücksteil verbracht werden können.

Praxishinweis | BGH V ZR 155/18

Mit dieser Entscheidung konkretisiert der BGH die Voraussetzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht. Er stellt klar, dass dieses eine über den Einzelfall hinausgehende Regelung beinhalten muss. Über das Eintragungserfordernis einer Grunddienstbarkeit im Grundbuch kann sich nicht einfach hinweggesetzt werden. Außerdem präzisiert der BGH die Voraussetzungen des Notwegrechts nach § 917 Abs. 1 BGB, indem er zwischen privater und gewerblicher Nutzung durch kleinere Gewerbebetriebe und größeren Produktions-, Lager- bzw. Handelsbetrieben unterscheidet.