BFH I R 2/18
Gestaltungsmissbrauch bei Verschmelzung einer „Gewinngesellschaft“ auf eine „Verlustgesellschaft“

05.01.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BFH
17.11.2020
I R 2/18
GmbHR 2021, 946

Leitsatz | BFH I R 2/18

  1. Einzelsteuergesetzliche Vorschriften zur Verhinderung von Steuerumgehungen, die tatbestandlich nicht einschlägig sind, schließen die Anwendung des § 42 AO nicht aus.
  2. Bei der Prüfung des Vorliegens eines Missbrauchs i.S.d. § 42 Abs. 2 AO sind diejenigen Wertungen des Gesetzgebers, die den von ihm geschaffenen einzelsteuergesetzlichen Vorschriften zur Verhinderung von Steuerumgehungen zugrunde liegen, zu berücksichtigen.
  3. Wird eine „Gewinngesellschaft“ auf eine „Verlustgesellschaft“ verschmolzen und verrechnet diese die positiven Einkünfte der „Gewinngesellschaft“ des Rückwirkungszeitraums mit ihren eigenen Verlusten, dann stellt dies nach der Rechtslage des Jahres 2008 keinen Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten dar. Dies gilt auch dann, wenn die „Gewinngesellschaft“ die Gewinne des Rückwirkungszeitraums bereits an ihre frühere Muttergesellschaft ausgeschüttet hatte.

Sachverhalt | BFH I R 2/18

Die Klägerin ist die A GmbH, welche im streiterheblichen Zeitraum zur Obergesellschaft B Corporation (B Corp.) gehörte und die zum Juni 2009 in Insolvenz fiel. Die A GmbH firmierte bis ins Jahr 2017 als A AG, welche durch formwechselnde Umwandlung der A GmbH im Jahr 2010 entstand.

Die Beteiligten streiten sich für das Jahr 2008 darüber, ob die Verschmelzung einer Gewinngesellschaft auf eine Verlustgesellschaft einen Gestaltungsmissbrauch im Sinne des § 42 AO in der im Jahr 2008 geltenden Fassung darstellt.

Als der Klägerin Ende 2008 die Insolvenz drohte, veräußerte die C ihr mit notariellem Vertrag vom 23.02.2009 ihre gesamten Anteile an der D GmbH. Das Vermögen der D GmbH, welche 2007 bereits mit der E GmbH verschmolzen worden war, bestand laut Bilanz vom 23.02.2009 im Wesentlichen aus liquiden Mitteln in Form von Bankguthaben sowie Steuererstattungsansprüchen. Zuvor hatte sie die von der E erwirtschafteten Gewinne, welche durch die teilweise Auflösung von Drohverlustrückstellungen, durchlaufenden Zinsüberschüssen und der günstigen Entwicklung von Swaps entstanden sind, am 29.01.2009 und am 17.02.2009 (vorab) an die C ausgeschüttet.

Mit Verschmelzungsvertrag vom 24.02.2009 wurde die D GmbH rückwirkend auf den 01.07.2008 auf die Klägerin verschmolzen. In der Bilanz wurde für die Ausschüttung für 2008 sowie für die Vorab-ausschüttung für 2009 ein passiver Korrekturposten berücksichtigt. Der dadurch entstandene Verschmelzungsverlust wurde bei der Klägerin steuerlich nicht in Ansatz gebracht. Vielmehr führte die Verschmelzung zur Zurechnung des Einkommens und des Vermögens der D GmbH. Der Klägerin gingen im Ergebnis nach Verrechnung liquide Mittel zu.

Die Beklagte (Finanzamt) änderte im Zuge einer Außenprüfung bei der Klägerin als Rechtsnachfolgerin der D GmbH die ursprünglich ergangenen Bescheide betreffend die Körperschaftssteuer und den Gewerbesteuermessbetrag für das Jahr 2008. Die Beklagte ist der Auffassung, dass die Anteilsübertragung und die sich anschließende Verschmelzung nach § 42 AO steuerlich nicht anzuerkennen sei und somit das Einkommen, welches im Rückwirkungszeitraum erwirtschaftet wurde, von der Klägerin als Steuersubjekt zu versteuern sei.

Die dagegen gerichtete Klage war erfolgreich. Das Finanzamt legt Revision ein.

Entscheidung | BFH I R 2/18

Das Gericht ersieht den Erwerb der Anteile an der D GmbH und deren anschließende rückwirkende Verschmelzung auf die Klägerin nicht als Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne des § 42 Abs. 2 AO an. Die Revision hat mithin keinen Erfolg.

In der heutigen Fassung des § 42 Abs. 1 S. 2 und 3 AO wird das Verhältnis zu einzelsteuergesetzlichen Umgehungsverhinderungsvorschriften eindeutig dahingehend festgelegt, dass letztere nur dann die Anwendung des § 42 AO verdrängen, wenn sie tatbestandlich einschlägig sind. Eine automatische Abschirmwirkung der einzelsteuergesetzlichen Umgehungsverhinderungsvorschriften gäbe es demnach nicht. Trotzdem seien diejenigen Wertungen des Gesetzgebers, die den einzelsteuergesetzlichen Umgehungsverhinderungsvorschriften zugrunde liegen im Rahmen der Auslegung bei der Missbrauchsprüfung im Sinne des § 42 AO zu berücksichtigen, um Wertungswidersprüche zu vermeiden.

Gemäß § 42 Abs. 2 AO liegt ein Missbrauch vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Dies gilt nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind.

Das Finanzgericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, die § 12 Abs. 3 Hs. 2 iVm § 4 Abs. 2 S. 2 UmwStG 2006 und § 8c S. 2 KStG seien tatbestandlich einschlägig, denn es handele sich dabei nicht um einzelsteuergesetzlichen Umgehungsverhinderungsvorschriften im Sinne des § 42 Abs. 1 S. 2 AO. Damit kommt § 42 AO, entgegen der Auffassung des Finanzgerichts, zur Anwendung.

Der Bundesfinanzhof sieht die Gestaltung nicht als rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 42 Abs. 2 AO an. Gestaltungen, die der Ausnutzung von Verlustpotenzialen dahingehend dienen, dass die von der D GmbH im Rückwirkungszeitraum erzielten positiven Einkünfte für eine Verrechnung mit den Verlusten der Klägerin sorgen und die dadurch ausgelöste Mindersteuer zur Verbesserung der Liquidität der Klägerin führen, seien von der Steuerrechtsordnung grundsätzlich gebilligt. Die Senatsrechtsprechung verlange für solche Gestaltungen auch keinen weiteren außersteuerlichen Zweck, der verfolgt werden muss. Unerheblich ist auch, dass die Klägerin die Anteile an der D GmbH von der nicht konzernangehörigen C erwirbt und dafür einen Preis zu zahlen hatte. Vielmehr sei der Erwerb einer potenziellen Quelle positiver Einkünfte ein vom Steuergesetz grundsätzlich akzeptierter Vorgang der Einkünfteerzielung. Insbesondere strebe die Klägerin die Verwertung ihres eigenen Verlusts an.

Obwohl das Finanzgericht mithin zu rechtsfehlerhaften Bewertungen der Lage gekommen ist, ist die Revision zurückzuweisen.

Praxishinweis | BFH I R 2/18

Zu beachten ist bei der Anwendung der heutigen Fassung der AO, dass diese ausdrücklich nur dann durch einzelsteuergesetzliche Umgehungsverhinderungsvorschriften verdrängt wird, wenn diese tatbestandlich einschlägig sind. Um eine solche Verdrängung wie im vorliegenden Fall verhindern und um der Missbrauchsprüfung standhalten zu können, sollte bei einer Verschmelzung einer Gewinngesellschaft auf eine Verlustgesellschaft insbesondere darauf geachtet werden, dass eigen erzielte Verluste der Verlustgesellschaft dahingehend genutzt werden, um damit Gewinne zu verrechnen, was wiederum Mindersteuer auslöst und folglich zur Verbesserung der Liquidität der Verlustgesellschaft führt.