BGH II ZR 56/20
Bilanznichtigkeitsklage des Insolvenzverwalters einer Aktiengesellschaft: Bewertung von Vermögensgegenständen im Jahresabschluss

20.07.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
11.05.2021
II ZR 56/20
AG 2022, 159

Leitsatz | BGH II ZR 56/20

  1. Der Insolvenzverwalter ist befugt, Nichtigkeitsklage nach § 256 Abs. 7 AktG zu erheben, sofern die Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses die Insolvenzmasse betrifft, weil der Insolvenzverwalter die Ersetzung des angegriffenen Jahresabschlusses durch einen für die Masse günstigeren Jahresabschluss erstrebt.
  2. Die Aktivierbarkeit der Anschaffungs- und Anschaffungsnebenkosten im Rahmen der Zugangsbewertung schließt eine Wertberichtigung nach § 253 Abs. 3 bis 5 HGB noch in der laufenden Abrechnungsperiode im Rahmen des folgenden Jahresabschlusses nicht aus.
  3. Die Überbewertung eines Bilanzpostens führt zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses, wenn sie wesentlich ist. Wird die Überbewertung eines Bilanzpostens von einer Gesellschaft gezielt eingesetzt, um den Gläubigern ein nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild von der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln, kann im Rahmen der Beurteilung der Wesentlichkeit des Verstoßes der Schutz der Gläubiger nicht hintanstehen, um die Gesellschaft vor der Folge der Nichtigkeit des Jahresabschlusses zu bewahren.

 

Sachverhalt | BGH II ZR 56/20

Die Klägerin ist Insolvenzverwalterin der beklagten Aktiengesellschaft, über deren Vermögen 2014 das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Alleinige Gesellschafterin der Beklagten ist eine KGaA, über deren Vermögen ebenfalls das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Seit 2005 bestand zwischen beiden Gesellschaften ein Gewinnabführungsvertrag. Geschäftsgegenstand der Beklagten war das Vermitteln von Immobilien und Versicherungen aller Art, der An- und Verkauf von Versicherungsbeständen und artverwandte Tätigkeiten. Die Beklagte vermittelte auch Goldsparpläne der P GmbH. 2011 zeichnete die Beklagte bei der P GmbH Goldsparpläne im Gesamtwert von ca. EUR 52 Mio. Hinzukamen Provisionszahlungen in Höhe von ca. EUR 6,3 Mio., die sofort mit Abschluss fällig waren. Bis zum 31. Dezember 2011 erwarb die Beklagte aufgrund der Goldsparpläne Gold im Wert von ca. EUR 0,4 Mio. Im Jahresabschluss für das Kalenderjahr 2011 hat die Beklagte die Goldsparpläne mit einem Wert von ca. EUR 6,7 Mio. im Anlagevermögen aktiviert. Die Beklagte verfolgte mit der Zeichnung und Bilanzierung der Goldsparpläne den Zweck, Vertrauen bei Kapitalanlegern und Vermittlern in die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erwecken. Zum für die Aufstellung des Jahresabschlusses für das Jahr 2011 maßgeblichen Zeitpunkt beabsichtigte die Beklagte unter Berücksichtigung des Wertaufhellungszeitraumes bereits, die Goldsparpläne nicht über die gesamte vorgesehene Laufzeit durchzuführen, sondern diese alsbald zu kündigen und die bis dahin erworbenen Goldbestände zu veräußern.

Die Klägerin begehrt die Feststellung der Nichtigkeit des Jahresabschlusses der Beklagten zum 31. Dezember 2011 und des Gewinnverwendungsbeschlusses vom 15. Mai 2012. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben.

Entscheidung | BGH II ZR 56/20

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision lagen zum Zeitpunkt der Beurteilung durch das Revisionsgericht nicht mehr vor. Die Revision wurde von der Beklagten nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen.

Durch Entscheidungen des BGH, die nach dem Erlass des Urteils des Berufungsgerichts ergingen (BGH v. 21.4.2020 - II ZR 412/17, BGHZ 225, 198 = AG 2020, 545; v. 21.4.2020 - II ZR 56/18, ZIP 2020, 1118 = AG 2020, 540), ist nunmehr höchstrichterlich geklärt, dass der Insolvenzverwalter befugt ist, Nichtigkeitsklage nach §§ 256 Abs. 7 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG zu erheben, soweit die Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses die Insolvenzmasse betrifft und diese Klage unbeschadet der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen die Insolvenzschuldnerin zu richten ist. Grund dafür ist, dass der Insolvenzverwalter die Ersetzung des angegriffenen Jahresabschlusses durch einen für die Masse günstigeren Jahresabschluss erstrebt. Insofern ist der vom Berufungsgericht angenommene Revisionszulassungsgrund weggefallen, denn der Sache mangelt es nunmehr an einer grundsätzlichen Bedeutung nach § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO.

In materieller Hinsicht äußert sich der zweite Zivilsenat gleichwohl und bestätigt die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Jahresabschluss fehlerhaft war.

Vermögensgegenstände sind gem. § 253 Abs. 1 S. 1 HGB höchstens mit ihren Anschaffungskosten nach § 255 Abs. 1 S. 1 und 2 HGB, vermindert um Abschreibungen nach § 253 Abs. 3 bis 5 HGB in der Bilanz zu aktivieren. Dabei sind sowohl die reinen Anschaffungs- als auch Anschaffungsnebenkosten grundsätzlich zu aktivieren – unabhängig davon, ob diese überhöht waren. Die Aktivierbarkeit dieser Kosten im Rahmen der Zugangsbewertung schließt jedoch eine Wertberichtigung noch in der laufenden Abrechnungsperiode im Rahmen des folgenden Jahresabschlusses nicht aus. Liegen die Anschaffungskosten über dem Zeitwert des Vermögensgegenstandes und kommt es dadurch zu Überwertungen bei der Zugangsbewertung, ist im Rahmen des folgenden Jahresabschlusses zu prüfen, ob eine Abwertung nach § 253 Abs. 3 bis 5 HGB zu erfolgen hat. Hierbei differenziert das Gesetz zwischen Anlage- und Umlaufvermögen.

In der vorliegenden Sache kann dahinstehen, ob die Goldsparpläne dem Anlage- oder dem Umlaufvermögen zuzuordnen sind. Denn in beiden Fällen fand eine Überbewertung statt. Da die Beklagte zum für die Aufstellung des Jahresabschlusses maßgeblichen Zeitpunkt beabsichtigte, die Goldsparpläne nicht über den kompletten Zeitraum durchzuführen, hätte dies mit einer entsprechenden Abwertung der Anschaffungsnebenkosten einhergehen müssen.

Ordnet man die Anschaffungsnebenkosten als Anlagevermögen ein, so gilt § 253 Abs. 3 a.F. HGB, wonach bei allen Vermögensgegenständen des Anlagevermögens außerplanmäßige Abschreibungen vorzunehmen sind, wenn der beizulegende Wert am Abschlussstichtag voraussichtlich dauernd niedriger ist als der Buchwert. Das Vorsichtsprinzip gebietet insoweit Wertminderungen im Zweifel als dauernd und nicht nur als vorübergehend einzuordnen. Soweit die Absicht bestand, die Goldsparpläne nicht bis zum Ende durchzuführen, waren die Anschaffungsnebenkosten daher nicht mehr werthaltig. Auf eine unmittelbar bevorstehende Kündigung kommt es insofern nicht mehr an.

Ordnet man die Anschaffungsnebenkosten als Umlaufvermögen ein, so gilt das Niederstwertprinzip nach § 253 Abs. 4 HGB. Vermögensgegenstände sind mit dem Marktpreis anzusetzen, soweit dieser niedriger ist, als die Anschaffungskosten. Auch hiernach waren die Anschaffungsnebenkosten in dem Umfang nicht mehr werthaltig, in dem sie nicht mehr dem weiteren Golderwerb dienen würden.

Die Nichtigkeit des Jahresabschlusses setzt schließlich die Wesentlichkeit der Überbewertung des Vermögensgegenstandes für die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft voraus. Ob die Überbewertung eines Bilanzpostens wesentlich im Verhältnis zur Bilanzsumme oder zum Bilanzgewinn sein muss, hat der BGH bisher offengelassen und kann auch in der vorliegenden Sache offenbleiben. Denn wird die Überbewertung eines Bilanzpostens von einer Gesellschaft gezielt eingesetzt, um den Gläubigern ein nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild von der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln, kann deren Schutz nicht hintanstehen, um die Gesellschaft vor der Folge der Nichtigkeit des Jahresabschlusses zu bewahren. Der BGH deutet jedoch an, dass auch im Rahmen der quantitativen Betrachtung die über 15-fache Überbewertung des Kaufpreises, sowie die daraus resultierende 6-fache Überbewertung des Bilanzpostens „andere Anlagen, Betriebs- und Geschäftsausstattung“ die Wesentlichkeitsschwelle erreicht.

Auch das Bestehen eines Gewinnabführungsvertrags ändert an der Beurteilung der Wesentlichkeit nichts. Die Interessen der Gläubiger werden bei einer Überbewertung gefährdet, weil ein zu hoher Bilanzgewinn festgestellt und ausgeschüttet werden kann. Die Gefährdungslage ist nicht geringer, wenn im Rahmen eines Gewinnabführungsvertrags ein (zu hohes) Jahresergebnis an das herrschende Unternehmen abgeführt werden kann. Schließlich darf auch bei Bestehen eines Gewinnabführungsvertrages nur der Gewinn und nicht mehr abgeführt werden.

Praxishinweis | BGH II ZR 56/20

Zwar sind sowohl die reinen Anschaffungs- als auch Anschaffungsnebenkosten grundsätzlich aktivierbar. Jedoch muss auch in der laufenden Abrechnungsperiode die Werthaltigkeit der bilanzierten Vermögensgegenstände beurteilt werden. Das überrascht wenig und steht freilich auch im Einklang mit dem true and fair view Prinzip der Bilanzierung. Insofern ist bei der Jahresabschlusserstellung darauf zu achten, dass die im Jahresabschluss ausgewiesenen Werte auch tatsächlich die Vermögenslage der Gesellschaft wiedergeben – und zwar inklusive der Absichten für die Zukunft, sofern diese die Werthaltigkeit einzelner Vermögensgegenstände beeinflussen.

Wird ein Bewertungsverstoß gezielt genutzt um Gläubiger der Gesellschaft zu täuschen, so kommt dem Schutz dieser Gläubiger in der Abwägung mit dem Interesse der Gesellschaft, die Folgen der Nichtigkeit des Jahresabschlusses tragen zu müssen, erhebliches Gewicht zu. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind gezielte Überbewertungen ein gefährliches Werkzeug – das im vorliegenden Fall außerdem zu strafrechtlichen Verurteilungen der Beteiligten führte.