BVerfG 1 BvL 12/20
Bewertung, ob von Hartz-IV-Empfängern selbst bewohntes Eigentum angemessen ist, darf von der Zahl der Bewohner abhängen

11.07.2022

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BVerfG
28.04.2022
1 BvL 12/20
juris

Leitsatz | BVerfG 1 BvL 12/20

§ 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Satz 2 SGB II (verkündet als Artikel 1 Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003, gültig ab dem 1. Januar 2005, BGBl. I, S. 2954) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

Sachverhalt | BVerfG 1 BvL 12/20

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens lebte mit ihrem Ehemann in einem im Eigentum des Ehemanns stehenden Haus mit einer Wohnfläche von 143,69 qm. Die Eheleute bewohnen das Haus allein, nachdem sie mit ihren sechs Kindern 1997 einzogen und das letzte Kind im April 2013 auszog. Ihr Ehemann bezieht Altersrente. Der Antrag der Klägerin auf zuschussweise Leistungsgewährung wurde mit Bescheid vom 9. Mai 2018 abgelehnt, da das Vermögen der beiden aufgrund des im Eigentum des Ehemanns stehenden Hauses den für die Klägerin und ihn maßgeblichen Freibetrag übersteige. Auch sei das Hausgrundstück verwertbar, da es sich mangels angemessener Größe nicht um Sondervermögen i.S.d. § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB II handele. Denn angemessen seien bei einem Zwei-Personen-Haushalt 90 qm.

Dagegen erhob die Klägerin Klage, nachdem ihr Widerspruch erfolglos blieb. Das Sozialgericht Aurich setzte das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11, § 80 Abs. 1 BVerfGG aus und legte die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor, ob § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 i.V.m. S. 2 SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, die Norm verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 und mit Art. 20 Abs. 1 GG.

Entscheidung | BVerfG 1 BvL 12/20

Das Bundesverfassungsgericht hält die Vorlage zwar für zulässig. Die Norm sei jedoch mit dem Grundgesetz vereinbar und somit verfassungsgemäß.

Aus Art. 3 Abs. 1 GG folge das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Dies führe allerdings weder dazu, dass dem Gesetzgeber jegliche Differenzierung untersagt ist, noch Ungleiches unter allen Umständen ungleich zu behandeln ist. § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4, S. 2 SGB II verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es sei nicht verfassungswidrig, dass die Norm allen Betroffenen die Verwertung von aktuell unangemessen großem Wohnraum abverlangt, ohne danach zu unterscheiden, ob der Wohnraum vorher mit Kindern bewohnt wurde, daher angemessen groß war und somit nicht verwertet werden konnte oder ob es früher bereits unangemessen groß gewesen ist. Wenn jedoch darin eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem gesehen werden sollte, sei diese jedenfalls gerechtfertigt.
Die Norm des SGB II schütze Wohneigentum von aktuell angemessener Größe vor der Verwertung. Dabei sei die familiäre Vorgeschichte der Immobilie für die Beurteilung, ob ein Leistungsanspruch besteht oder nicht, unbeachtlich. Die unangemessen große Immobilie eines Paares sei demnach im Bedarfsfall auf die angemessene Größe zu beschränken, ungeachtet dessen, ob das Paar vorher mit oder ohne Kinder in der Immobilie gewohnt hat. Insofern liege eine formale Gleichbehandlung vor. Die angemessene Größe richte sich nämlich in allen Konstellationen ohne Unterschied allein nach der aktuellen Bewohnerzahl während des Bezugs von SGB II-Leistungen.

Es sei schon zweifelhaft, ob es sich in einem Fall wie dem Vorliegenden überhaupt um wesentlich ungleiche Sachverhalte handele. Sofern man das wesentliche Merkmal im aktuellen Wohnflächenbedarf der Antragsteller sehe, seien die gleich behandelten Sachverhalte wesentlich gleich. Wollte man hingegen, etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG, das wesentliche Merkmal in dem Wunsch sehen, in dem gerade wegen der erziehenden Kinder größer dimensionierten Wohneigentum wohnen zu bleiben, dann läge eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem vor.

Wenn in § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 4, S. 2 SGB II eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem gesehen werden sollte, sei diese nach Ansicht des BVerfG aber jedenfalls gerechtfertigt. Die Anforderungen an die Rechtfertigung gehen über das Willkürverbot hinaus. In Rede stehe das aktuell bewohnte Wohneigentum, welches durch Art. 14 Abs. 1 GG als Lebensmittelpunkt geschützt sei. Es sei Eltern regelmäßig nicht zumutbar, sich zu Zeiten, in denen die Kinder noch bei Ihnen wohnen, auf eine für ein Ehepaar ohne Kinder nach dem SGB II angemessene Wohnfläche zu beschränken. Dass die Norm grundsätzlich nicht an die familiäre Vorgeschichte des Wohneigentums abstellt, müsse einen hinreichend gewichtigen Zweck verfolgen. Dabei habe der Gesetzgeber insgesamt einen weiten Spielraum. Insgesamt hält das Gericht fest, dass eine mangelnde Differenzierung nach der familiären Vorgeschichte bei der Frage der Verwertungsbedürftigkeit größeren Wohneigentums einem legitimen Zweck dient, geeignet und erforderlich ist, diesen Zweck zu erfüllen und, dass sie zu der Belastung der Betroffenen nicht außer Verhältnis steht. Der Gesetzgeber verfolge einen verfassungsmäßig legitimen Zweck, indem er den gegenwärtigen Bedarf als Bezugspunkt staatlicher Transferleistungen wählt. Mit der Beschränkung des Schutzes des Wohnraums auf Wohnraum von aktuell angemessener Größe verfolge der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlich legitimen Bedarfsdeckungsprinzip.

Die Abstellung auf die aktuelle Bewohnerzahl für die Frage der angemessenen Größe von Wohnraum sei zur Realisierung des Bedarfsdeckungsprinzips auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, erforderlich und verhältnismäßig. Der soziale Rechtsstaat sei darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen aktuell Bedürftigkeit besteht. Zudem werde den Betroffenen auch Leistungen nicht verwehrt, da diese ihr Wohneigentum einsetzen und damit ihren Bedarf selbst sichern könnten.

Praxishinweis | BVerfG 1 BvL 12/20

Einem Ehepaar, dessen Wohneigentum nach Auszug der Kinder unangemessen groß ist, d.h. wenn die Wohnfläche mehr als 90 qm beträgt, ist der Anspruch von SGB II-Leistungen grundsätzlich verwehrt. Daher sind die Betroffenen gezwungen, ihr Wohneigentum zu veräußern oder zu vermieten, um mit dem erhaltenen Geld selbst ihren Bedarf sichern zu können. Das BVerfG stellt damit klar, dass es dem Gesetzgeber vorbehalten sei, Sozialleistungen erst nachrangig zu gewähren, nachdem die Betroffenen ihre Existenz mit eigenen Mitteln nicht mehr sichern können.