BVerwG 4 C 1.20
Ausübung des Vorkaufsrechts nicht aufgrund der reinen Erwartung künftiger Mieterhöhungen gestattet

29.12.2021

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BVerwG
09.11.2021
4 C 1.20
juris

Leitsatz | BVerwG 4 C 1.20

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausübung eines Vorkaufsrechts in einem Milieuschutzgebiet kommt es gemäß § 26 Nr. 4 BauGB auf die tatsächlichen Verhältnisse auf dem Grundstück im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über das Vorkaufsrecht an. Die reine Befürchtung, es könne in der Folgezeit zu Mieterhöhungen oder zur Umwandlung in Eigentumswohnungen kommen, reicht als Begründung für eine Ausübung des Vorkaufsrechts nicht aus. (nichtamtl. Leitsatz)

Sachverhalt | BVerwG 4 C 1.20

Die Klägerin ist eine Immobiliengesellschaft, der Beklagte ist das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin. Die Klägerin erwarb im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, einem Milieuschutzgebiet, ein Grundstück mit 20 Mietwohnungen und zwei Gewerbeeinheiten. Nachdem die Immobiliengesellschaft eine vom Bezirk geforderte Abwendungsvereinbarung, welche eine Mieterhöhung ausgeschlossen hätte, ablehnte, übte der Bezirk sein Vorkaufsrecht zugunsten einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft aus. Als Begründung für die Ausübung führte der Bezirk die Gefahr an, ein Teil der Wohnbevölkerung könne durch Mieterhöhungen oder Umwandlungen in Eigentumswohnungen verdrängt werden. Die Gesellschaft klagte und hatte vor dem Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht zunächst keinen Erfolg.

Entscheidung | BVerwG 4 C 1.20

Die Klage ist begründet. Der Beklagte durfte sein Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Nr. 4 BauGB nicht ausüben.

Das Grundstück befindet sich in einem Milieuschutzgebiet. Gemeint ist eine Erhaltungssatzung beziehungsweise -verordnung im jeweiligen Geltungsbereich. Eine solche Verordnung diene dem Schutz der Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus besonderen städtebaulichen Gründen. Gemäß § 26 Nr. 4 Alt. 2 BauGB sei die Ausübung des Vorkaufsrechts ausgeschlossen, wenn das Grundstück entsprechend den Zielen oder Zwecken der städtebaulichen Maßnahmen bebaut ist und genutzt wird und eine auf ihm errichtete bauliche Anlage keine Missstände oder Mängel im Sinne des § 177 Abs. 2 und 3 Satz 1 aufweist. Diese Voraussetzungen seien nach der bindenden Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts gegeben.

Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen könne die Klage nicht mit der Begründung abgewiesen werden, dass das Wohl der Allgemeinheit die Ausübung des Vorkaufsrechts rechtfertige und die sozialen Erhaltungsziele gefördert würden. § 26 Nr. 4 BauGB beziehe sich nach seinem Wortlaut eindeutig auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über das Vorkaufsrecht. Insbesondere finde die Vorschrift auch auf Vorkaufsrechte für Grundstücke im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung Anwendung. Allein die Befürchtung, ein Mehrfamilienhaus könne in Eigentumswohnungen aufgeteilt werden, reiche daher für die Begründung eines Vorkaufsrechts nicht aus. Es komme vielmehr auf die tatsächlichen Verhältnisse auf dem Grundstück an, welche nach Feststellung der Vorinstanzen den Ausschlussgründen nach § 26 Nr. 4 Alt. 2 BauGB entsprechen und damit die Ausübung des Vorkaufsrechts verhindern.

Praxishinweis | BVerwG 4 C 1.20

Die vielmals, und vor allem in Berlin, angewandte Vorkaufspraxis zur Verhinderung der Erhöhung der Mieten scheint mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nun ein Ende zu haben. Investoren und Immobiliengesellschaften können sich bei ähnlichen Tatsachenverhältnissen künftig zur Abwendung der Ausübung des Vorkaufsrechts auf das Urteil des Bundesverwaltungsrechts stützen. Sofern die tatsächlichen Verhältnisse des Grundstücks somit eine Ausübung des Vorkaufsrechts gemäß § 26 Nr. 4 BauGB ausschließen, kann die Gemeinde von einem solchen nicht Gebrauch machen. Die Vermutung, die Gesellschaft werde der üblichen Praxis, die Wohneinheiten zu modernisieren und dann die Miete erhöhen oder sie zu Eigentumswohnungen umzuwandeln, nachkommen und damit Mieter vertreiben, reicht als Argument nicht mehr aus.