BVerfG 1 BvR 972/20
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin abgelehnt

07.04.2021

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BVerfG
28.10.2020
1 BvR 972/20
BeckRS 2020, 28278

Leitsatz | BVerfG 1 BvR 972/20

  1. Die Frage, ob dem Land Berlin die Gesetzgebungskompetenz für die angegriffenen Regelungen des Gesetzes zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin zusteht, muss als offen bezeichnet werden und bedarf einer näheren Prüfung im Verfahren der Verfassungsbeschwerde. (Rn.15)
  2. Der besonders strenge Maßstab bei der Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes verlangt nicht nur eine besondere Schwere der Nachteile, die entstehen, wenn die einstweilige Anordnung nicht ergeht, sondern stellt auch sehr hohe Anforderungen an die Darlegung, dass solche Nachteile zu gewärtigen sind. (Rn.11 – 14)
  3. Tatsächliche Auswirkungen wirtschaftlicher Art können regelmäßig nicht als von ganz besonderem Gewicht bewertet werden, wenn sie nicht existenzbedrohende Ausmaße annehmen. (Rn.18)
  4. Können die mit den Mietern vertraglich vereinbarten Beträge rückwirkend verlangt werden, sind grundsätzlich keine irreversiblen Schäden für den Fall, dass sich die Norm nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache als verfassungswidrig erweist, zu erwarten. (Rn.19)

Sachverhalt | BVerfG 1 BvR 972/20

Der Eilantrag der Beschwerdeführerin zu 2) begehrt die vorläufige Aussetzung des Inkrafttretens des § 5 I, II des Gesetzes zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (im Folgenden: MietenWoG Bln). Dieses Gesetz verbietet höhere Mieten als die am 18. Juni 2019 wirksam vereinbarte Miete. Bei Neuvermietungen darf die Mietobergrenze aus §§ 6, 7 I MietenWoG Bln nach § 4 MietenWoG Bln nicht mehr überschritten werden. Nach § 5 I S.1, 2 MietenWoG Bln darf die Miete bei den übrigen Mietverhältnissen nicht über 20 % der Mietobergrenze liegen.

Die Beschwerdeführerin zu 2) ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, welche Eigentümerin von 24 Wohnungen in Berlin ist. 14 dieser Wohnungen wurden bei Mieterwechseln saniert und neuvermietet. Die neuen Mieten liegen zwischen 7,45 € und 15 € pro Quadratmeter und Monat. Falls das MietenWoG Bln in Kraft treten sollte, dann würde die Mietobergrenze, nach Berechnungen der Beschwerdeführerin zu 2), bei 8,80 € pro Quadratmeter und Monat liegen. Aufgrund dessen müssten die Mieten von 13 Wohnungen abgesenkt werden.

Die Beschwerdeführer zu 1) – 6) haben gegen §§ 3-7, 11 I Nr. 2-5, II MietenWoG Bln Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erhoben. Es wird eine Verletzung der Grundrechte gerügt, insbesondere der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 I GG. Außerdem fehle es bereits an der formellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, weil dem Land Berlin die Gesetzgebungskompetenz fehle.

Die Beschwerdeführerin zu 2) führt in ihrem Antrag aus, dass diese Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet sei. Ihr würde aufgrund der zwanghaften Mietsenkung ein Schaden von etwa 2017,42 € monatlich entstehen. Dieser Betrag entspricht 15% des Nettoeinkommens der Beschwerdeführerin. Dieser Eingriff komme in der Schwere einer Teilenteignung gleich. Bei der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Normen könnte es für die Mieter zu hohen und sogar kündigungsrelevanten Mietrückständen kommen.

Entscheidung | BVerfG 1 BvR 972/20

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung blieb ohne Erfolg. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung zur Abwehr von schweren Nachteilen und aus weiteren wichtigen Gründen für das Gemeinwohl treffen. Bei einer einstweiligen Anordnung, die die Aussetzung eines Gesetzes regelt, wird ein besonders hoher Maßstab bei der Prüfung der Nachteile angelegt, weil es dadurch regelmäßig zu einem erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers kommt.

Im Einzelnen erfolgt bei der Prüfung des Antrags eine Abwägung zwischen den entstehenden Nachteilen bei einer einstweiligen Anordnung und bei späterem Misserfolg der Verfassungsbeschwerde, sowie bei fehlender einstweiliger Anordnung und bei Erfolg der Verfassungsbeschwerde. Die Nachteile müssen irreversibel bzw. schwer revidierbar oder, im Zeitraum zwischen Inkrafttreten des Gesetzes und der Entscheidung in der Hauptsache, äußerst schwerwiegend sein. Im Sinne einer Plausibilitätskontrolle bedarf es einer individualisierten, nachvollziehbaren und konkreten Darlegung der Nachteile. Solange der Beschwerdeführer einen eigenen schweren Nachteil hinreichend vorträgt, sind auch Auswirkungen für alle von dem Gesetz Betroffenen zu berücksichtigen.

Diesen hohen Anforderungen genügt der Antrag der Beschwerdeführerin zu 2) nicht. Die Gesetzgebungskompetenz des Lands Berlin bleibt für die Verfassungsbeschwerde offen. Zwar leitet die Beschwerdeführerin zu 2) richtig ab, dass bei Inkrafttreten der MietenWoG Bln, die Mieten nach § 5 I 2 MietenWoG Bln abzusenken sind, jedoch werden keine hinreichend schwerwiegenden Nachteile, sowohl für sich selbst als auch für weitere Vermieter, dargestellt. Wirtschaftliche Nachteile sind grundsätzlich jedoch nicht geeignet die Aussetzung der Anwendung von Normen zu begründen. Ein besonderes Gewicht von wirtschaftlichen Nachteilen kommt nur in Betracht, wenn diese ein existenzbedrohendes Ausmaß annehmen.

Der wirtschaftliche Schaden ist nicht irreversibel, weil die Beschwerdeführerin zu 2), im Fall der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Normen, die vertraglich vereinbarten Beträge rückwirkend verlangen kann. Es besteht eine abstrakte Gefahr, dass Mieter die nachträglich geschuldete Miete nicht erbringen können. Jedoch zeigt die Beschwerdeführerin zu 2) hierfür keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte auf.

Es entstehen keine erheblichen Schwierigkeiten zur Neuberechnung der zulässigen Miete, weil die zur Berechnung maßgeblichen Umstände vergleichbar sind, mit denen zur Bildung der ortsüblichen Vergleichsmiete gemäß § 558 II BGB. Selbst wenn das Inkrafttreten des MietenWoG Bln zu erheblichen Verlusten, aufgrund von Mietminderungen, führt, bleibt den Vermietern immer noch die Möglichkeit eines Härtefallantrags nach § 8 MietenWoG Bln auf Genehmigung einer höheren Miete.

Praxishinweis | BVerfG 1 BvR 972/20

Rein wirtschaftliche Nachteile können nur zu einer einstweiligen Anordnung auf Aussetzung eines Gesetzes führen, wenn diese ein existenzbedrohendes Ausmaß annehmen. Der Schaden ist, im Fall der Verfassungswidrigkeit der Normen des MietenWoG Bln, nicht irreversibel, weil der Vermieter die vertraglich vereinbarten Beträge rückwirkend von den Mietern verlangen kann.