EuGH C-724/18, C-727/18 (verbunden)
EuGH zu Zweckentfremdung von Wohnraum bei Kurzzeitvermietung (über airbnb)

12.10.2020

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

EuGH
22.09.2020
C-724/18, C-727/18 (verbunden)
BeckRS 2020, 23418

Leitsatz | EuGH C-724/18, C-727/18 (verbunden)

  1. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2006/123 ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung, die bestimmte Tätigkeiten der regelmäßigen Kurzzeitvermietung von möblierten Wohnungen an Personen, die sich lediglich vorübergehend in der betreffenden Gemeinde aufhalten, ohne dort einen Wohnsitz zu begründen, um ein ausreichendes Angebot an Wohnungen, die längerfristig zu erschwinglichen Preisen vermietet werden, zu gewährleisten, in bestimmten Gemeinden mit besonders hohem Mietpreisdruck einer Regelung der vorherigen Genehmigung unterwirft, durch den zwingenden Grund des Allgemeininteresses der Bekämpfung des Mietwohnungsmangels gerechtfertigt und in Bezug auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig ist, da dieses nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden kann, insbesondere weil eine nachträgliche Kontrolle zu spät erfolgen würde, um wirksam zu sein.
  2. Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2006/123 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, mit der eine Regelung eingeführt wird, die die Ausübung bestimmter Tätigkeiten der Vermietung von möblierten Wohnungen von einer vorherigen Genehmigung, die auf den Kriterien beruht, dass es sich um eine „regelmäßige Kurzzeitvermietung … an Personen, die sich lediglich vorübergehend in der betreffenden Gemeinde aufhalten, ohne dort einen Wohnsitz zu begründen“, handelt, abhängig macht und die örtlichen Behörden ermächtigt, die Voraussetzungen für die Erteilung der entsprechenden Genehmigungen nach den Vorgaben der Regelung im Hinblick auf das Ziel der sozialen Vermischung und unter Berücksichtigung der Lage auf den örtlichen Wohnungsmärkten und der Erforderlichkeit, den Wohnungsmangel nicht zu verstärken, im Einzelnen festzulegen und die Genehmigungen bei Bedarf mit der Verpflichtung zu einem Ausgleich durch gleichzeitige akzessorische Umwandlung von anders genutztem Raum in Wohnraum zu verbinden, nicht entgegensteht, sofern die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigungen den Anforderungen des Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2006/123 entsprechen und die Ausgleichspflicht unter transparenten und zugänglichen Bedingungen erfüllt werden kann.

(Tenor redigiert)

Sachverhalt | EuGH C-724/18, C-727/18 (verbunden)

Die Kläger, Cali Apartments und HX sind beide Eigentümer einer Einzimmerwohnung in Paris.

Diese wurden auf einer Website regelmäßig ohne vorherige Genehmigung zur Vermietung für kurze Zeit an Personen angeboten, die sich vorübergehend in der Stadt aufhielten.

Vor dem Hintergrund einer französischen Regelung im Bau- und Wohngesetzbuch wurden sie von den französischen Gerichten in erster und zweiter Instanz verurteilt, Geldbußen zu zahlen und die betreffenden Räume in Wohnungen rückumzuwandeln. Die Vermietung stelle nach Auffassung der Gerichte ein Verstoß gegen nationales Recht dar: Das französische Bau- und Wohnungsgesetzbuch sieht vor, dass in Gemeinden mit mehr als 200 000 Einwohnern und im Umland von Paris die Umnutzung von Wohnungen einer vorherigen Genehmigung bedarf und dass die regelmäßige Kurzzeitvermietung einer möblierten Wohnung an Personen, die sich lediglich vorübergehend in der betreffenden Gemeinde aufhalten, ohne dort einen Wohnsitz begründen, eine Umnutzung darstellt.

Die Kläger machten geltend, dass die Urteile gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen. Im Lichte der EU-Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123) hätte festgestellt werden müssen, dass die nationale Regelung als Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs durch ein Allgemeininteresse als zwingenden Grund gerechtfertigt ist und dass das mit der Regelung verfolgte Ziel durch ein milderes Mittel hätte erreicht werden können.

Das Kassationsgericht bezweifelte, ob die Form der Vermietung als Dienstleistungstätigkeit überhaupt in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle und weiterhin, ob die Regelung unter die dort vorhandene Genehmigungsvorschrift fällt.

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nur dann Genehmigungsregelungen unterwerfen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: (..)

b) die Genehmigungsregelungen sind durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt.“

Der Kassationsgerichtshof hat die Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Entscheidung | EuGH C-724/18, C-727/18 (verbunden)

Der EuGH stellte zunächst fest, dass die regelmäßige Kurzzeitvermietung von möbliertem Wohnraum an Personen, die sich lediglich vorübergehend in den betreffenden Gemeinden aufhalten ohne dort einen Wohnsitz zu begründen, unter den Dienstleistungsbegriff im Sinne der Richtlinie fällt. Denn „Dienstleistung“ sei gem. Art. 57 AEUV jede selbstständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werde. Ein Ausschluss vom Anwendungsbereich auf Grundlage der Richtlinie selbst käme nicht in Betracht.

Außerdem falle die französische Regelung unter den in der Richtlinie enthaltenen Genehmigungsbegriff und müsse daher auch dessen Anforderungen erfüllen. Insoweit sei die Vorschrift jedoch durch den zwingenden Grund des Allgemeininteresses der Bekämpfung des Mietwohnungsmangels gerechtfertigt und in Bezug auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig.

Hinsichtlich des zwingenden Grunds führte das Gericht aus, dass das Ziel der französischen Regelung sei, der Verschlechterung der Bedingungen für den Zugang zu Wohnraum und der Verschärfung der Spannungen auf den Immobilienmärkten Rechnung zu tragen, Eigentümer und Mieter zu schützen und die Erhöhung des Angebots an Wohnungen zu ermöglichen, da Wohnen ein Grundbedürfnis sei und somit auch ein durch die französische Verfassung geschütztes Ziel darstelle. Insoweit habe der Gerichtshof bereits anerkannt, dass Erfordernisse, die „mit der Sozialwohnungspolitik zusammenhängen und mit denen dem Druck auf den Grundstücksmarkt entgegengewirkt werden soll, insbesondere bei einem Markt der durch einen strukturellen Mangel an Wohnraum und eine besonders hohe Bevölkerungsdichte gekennzeichnet ist, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ darstellen kann.

Die französische Regierung und die von der Stadt Paris bestätigte Studie belege, dass die Tätigkeit der Kurzzeitvermietung von möblierten Räumen erhebliche Inflationswirkung auf die Höhe der Mieten insbesondere in Paris, aber auch in anderen französischen Städten habe.

Auch sei die französische Regelung gerechtfertigt: sie sei geeignet den besonderen Umständen der betreffenden Gemeinden durch die örtlich damit vertrauten Behörden Rechnung zu tragen. Die Verhältnismäßigkeit ergebe sich weiter aus dem Ausschluss von Wohnungen, die den Hauptsitz des Vermieters darstellen, oder auch der räumlichen Begrenzung der Genehmigungspflicht. Ein milderes Mittel käme nicht in Betracht, da eine nachträgliche Kontrolle, etwa durch ein Meldesystem mit Sanktionen, es nicht ermöglichen könnte, die Fortsetzung des schnellen Umwandlungsprozesses durch den der Wohnungsmangel herbeigeführt werde, sofort und wirksam zu verlangsamen.

Praxishinweis | EuGH C-724/18, C-727/18 (verbunden)

Vor dem Hintergrund der in Deutschland höchstrichterlich noch nicht entschiedenen Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Mietendeckels verdeutlicht das Urteil, dass die Bekämpfung des Wohnungsmangels in gewissen Gemeinden auch auf europäischer Ebene ein nicht zu unterschätzendes Ziel ist. Der EuGH bestätigt insoweit, dass es – sowohl vor dem Hintergrund der vielfach angeführten Eigentums- oder hier Dienstleistungsfreiheit – nicht völlig ausgeschlossen scheint, eingreifende Gesetze zur wirkungsmächtigen Durchsetzung dieses Ziels zu erlassen. In diesem Sinne dürfte das EuGH-Urteil auch ein Wegweiser für das Bundesverfassungsgericht in Sachen Berliner Zweckentfremdungsverbotsgesetz (ZwVbG) sein: Verbote zur Zweckentfremdung sind laut EuGH generell möglich, um angespannte Wohnungsmärkte zu entlasten.