BSG B 12 R 25/18 R
Sozialversicherungspflicht des Geschäftsführers einer Familiengesellschaft (Aufgabe der „Kopf und Seele“-Rechtsprechung)

19.08.2020

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BSG
19.09.2019
B 12 R 25/18 R
GmbHR 2020, 147

Leitsatz | BSG B 12 R 25/18 R

  1. Ist ein GmbH-Geschäftsführer zugleich als Gesellschafter am Kapital der Gesellschaft beteiligt, sind der Umfang der Kapitalbeteiligung und das Ausmaß des sich daraus ergebenden Einflusses auf die Gesellschaft ein wesentliches Merkmal bei der Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit. Ein rein faktisches, nicht rechtlich gebundenes und daher jederzeit änderbares Verhalten der Beteiligten ist hingegen nicht maßgeblich.
  2. Vertrauensschutz nach Art. 20 Abs. 3 GG aufgrund einer Änderung der Rechtsprechung (hier: sog. „Kopf und Seele-Rechtsprechung“) kann nicht beansprucht werden. Es gibt keine verfassungsrechtlich relevante „Abkehr“ von früheren Rechtsprechungsmaßstäben zur Versicherungspflicht von GmbH-Geschäftsführern in Familiengesellschaften.

Sachverhalt | BSG B 12 R 25/18 R

Die klagende GmbH wendet sich gegen eine Beitragsnachforderung wegen Versicherungspflicht ihrer Geschäftsführerin der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung.

Alle Gesellschafter sind zu Geschäftsführern bestellt, alleinvertretungsberechtigt und von § 181 BGB befreit. Die internen Zuständigkeiten sind nach Resorts verteilt (z.B. „After Sales“, „Kaufmännische Buchhaltung“). Der Beigeladenen zu 1) und 2) halten 23% und 26% des Stammkapitals. Der Gesellschaftsvertrag sieht für Beschlussfassungen grundsätzlich eine einfache Stimmenmehrheit vor. Alle Gesellschafter bürgen gemeinsam für Verbindlichkeiten in Höhe von weiteren EUR 50.000.

Klage und Berufung gegen die Beitragsnachforderung blieben erfolglos.

Entscheidung | BSG B 12 R 25/18 R

Auch die Revision bleibt ohne Erfolg. Die Beigeladenen zu 1) und 2) waren nach Ansicht des BSG als Geschäftsführer der Klägerin beschäftigt (§ 7 Abs. 1 SGB IV) und damit versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung. Auch Vertrauensschutz komme nicht in Betracht.

Eine abhängige Beschäftigung setze nach der Rechtsprechung des BSG voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Ob ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, richte sich beim Geschäftsführer einer GmbH in erster Linie danach, ob der Geschäftsführer nach der ihm zukommenden, sich aus dem Gesellschaftsvertrag ergebenden Rechtsmacht ihm nicht genehme Weisungen oder Beschlüsse beeinflussen könne, die sein Anstellungsverhältnis betreffen. Insofern bestätigt das BSG seine vorherige Rechtsprechung.

Danach scheidet bei einem Fremdgeschäftsführer eine selbstständige Tätigkeit aus. Ein Gesellschafter-Geschäftsführer dagegen sei nicht schon aufgrund seiner Kapitalbeteiligung selbstständig für die GmbH tätig, sondern müsse über seine Gesellschafterstellung hinaus die Rechtsmacht haben, durch Einflussnahme auf die Gesellschafterversammlung die Geschicke der Gesellschaft zu bestimmen. Dies sei stets dann gegeben, wenn der Geschäftsführer eine Kapitalbeteiligung von mehr als 50% des Stammkapitals hält. Hält er weniger Anteile, so sei er nur dann selbstständig tätig, wenn er genau 50% der Anteile halte oder ihm bei einer geringeren Kapitalbeteiligung nach dem Gesellschaftsvertrag eine umfassende (also die gesamte Unternehmenstätigkeit erfassende) Sperrminorität habe. Durch eine „unechte“ Sperrminorität würden die Geschäftsführer dagegen nicht in die Lage versetzt, sich gegenüber Weisungen der Mehrheit in Bezug auf ihre Geschäftsführertätigkeit zur Wehr zu setzen. Auch aus der Übernahme von Bürgschaften ergebe sich (unter dem Aspekt der tatsächlichen wirtschaftlichen Einflussnahmemöglichkeiten) keine Vergleichbarkeit mit einem beherrschenden Gesellschafter-Gesellschafter.

Dagegen sei ein rein faktisches, nicht rechtlich gebundenes und daher jederzeit änderbares Verhalten der Beteiligten nicht maßgeblich. Als Argument führt das BSG an, dass dies nicht mit dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit sozialversicherungs- und beitragsrechtlicher Tatbestände vereinbar.

Schließlich verneint das BSG mit umfangreicher Begründung Vertrauensschutz nach Art. 20 Abs. 3 GG aufgrund der Abkehr von der „Kopf-und-Seele“-Rechtsprechung, wonach eine rechtlich bestehende Abhängigkeit durch die tatsächlichen Verhältnisse überlagert sein konnte und eine selbstständige Tätigkeit etwa vorliegen, wenn ein Geschäftsführer aufgrund seiner Stellung in der Familie die Geschäfte der Gesellschaft wie ein Alleingesellschafter nach eigenem Gutdünken führte und die Ordnung des Betriebes prägte, er „Kopf und Seele“ des Unternehmens war oder er bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise seine Tätigkeit nicht wie für ein fremdes, sondern wie für ein eigenes Unternehmen ausübte. Auch eine Berufung auf beanstandungsfreie vorangegangene Betriebsprüfungen scheide aus, da diese nicht durch Verwaltungsakt abgeschlossen worden seien. Einer pauschal gehaltene Prüfmitteilung, nach der die durchgeführte Betriebsprüfung „ohne Beanstandung geblieben ist“, komme nach dem objektiven Empfängerhorizont kein Regelungsgehalt zu.

Praxishinweis | BSG B 12 R 25/18 R

Das BSG gibt durch die vorliegend dargestellte Entscheidung seine „Kopf und Seele-Rechtsprechung“ auf. Künftig kann ein rein faktisches, nicht rechtlich gebundenes und daher jederzeit änderbares Verhalten der Beteiligten nicht mehr als Abgrenzungskriterium zur Verneinung der Abhängigkeit eines Geschäftsführers herangezogen werden. Eine bestehende rechtliche Abhängigkeit kann damit nicht mehr auf der Grundlage der früheren „Kopf-und-Seele-Rechtsprechung“ verneint werden.

Ein Gesellschafter-Geschäftsführer ist gemäß § 7 Abs. 1 SGB IV selbstständig tätig, wenn er über seine Gesellschafterstellung hinaus durch Einflussnahme auf die Gesellschafterversammlung die Geschicke der GmbH mitbestimmen zu können. Diese Voraussetzungen sind bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer erfüllt, der mehr als 50% des Stammkapitals hält. Hält er diese Mehrheit nicht, so genügt es ausnahmsweise, wenn er exakt 50% des Stammkapitals hält oder ihm bei geringerer Kapitalbeteiligung eine die gesamte Unternehmenstätigkeit betreffende (also „echte“) Sperrminorität hat. Nicht entscheidend sind dagegen

  • eine „unechte“ (auf einzelne Geschäfte bezogene) Sperrminorität
  • die Gewährung einer gewinnunabhängigen Tantieme - die Befreiung von § 181 BGB (weitreichende Entscheidungsbefugnisse begründen noch keine Selbstständigkeit),
  • sich aus Bürgschaften ergebende tatsächliche wirtschaftliche Einflussnahmemöglichkeiten,
  • ob die gewählte gesellschaftsvertragliche Gestaltung aus steuerlichen Gründen gewählt wurde.