BVerfG 1 BvR 673/17
Ausschluss der Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien verfassungswidrig

15.11.2019

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BVerfG
26.03.2019
1 BvR 673/17
NJW 2019, 1793

Leitsatz | BVerfG 1 BvR 673/17

  1. Der Ausschluss der Stiefkindadoption allein in nichtehelichen Familien verstößt gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot.
  2. Gegen die Stiefkindadoption vorgebrachte allgemeine Bedenken rechtfertigen nicht, sie nur in nichtehelichen Familien auszuschließen.
  3. Es ist ein legitimes gesetzliches Ziel, eine Stiefkindadoption nur dann zuzulassen, wenn die Beziehung zwischen Elternteil und Stiefelternteil Bestand verspricht (vgl. auch Art. 7 Abs. 2 des Europäischen Übereinkommens vom 27.11.2008 über die Adoption von Kin-dern [revidiert], BGBl. II 2015, S. 2 [BGBl. II 2015, 6]).
  4. Der Gesetzgeber darf im Adoptionsrecht die Ehelichkeit der Elternbeziehung als positiven Stabilitätsindikator verwenden. Der Ausschluss der Adoption von Stiefkindern in allen nichtehelichen Familien ist hingegen nicht zu rechtfertigen. Der Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption lässt sich auf andere Weise hinreichend wirksam sichern.
  5. Auch jenseits der Regelung von Vorgängen der Massenverwaltung kommen gesetzliche Typisierungen in Betracht, etwa wenn eine Regelung über ungewisse Umstände oder Ge-schehnisse zu treffen ist, die sich selbst bei detaillierter Einzelfallbetrachtung nicht mit Sicherheit bestimmen lassen. Die damit verbundene Ungleichbehandlung ist jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.

Sachverhalt | BVerfG 1 BvR 673/17

Die Beschwerdeführerin ist die leibliche Mutter zweier minderjähriger Kinder. Der leibliche Vater und damalige Ehemann der Mutter ist verstorben. Sie lebt nun in nichtehelicher Lebensgemeinschaft mit einem Mann, der eine Stiefkindadoption anstrebt. Eine Eheschließung lehnen die Beteiligten ab.

Das Amtsgericht lehnte den Antrag als unvereinbar mit der derzeitigen Gesetzeslage ab. Die dagegen gerichteten Beschwerden wurden vom OLG und vom BGH zurückgewiesen.

Entscheidung | BVerfG 1 BvR 673/17

Nach dem Bundesverfassungsgericht ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Die derzeitige Gesetzeslage führe zu einer Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem (Art. 3 I GG). Momentan könne ein Kind zwar von einem Stiefelternteil, der mit einem Elternteil verheiratet sei, adoptiert werden. Das Verwandtschaftsverhältnis zum anderen Elternteil bliebe bestehen. Das Kind wäre also ein gemeinschaftliches Kind beider Eltern. Derzeit sei allerdings vollständig ausgeschlossen, dass ein Kind von einem Stiefelternteil, der mit einem Elternteil in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebe, adoptiert wird, ohne dass die verwandtschaftliche Beziehung zum Elternteil erlösche.

Für diese Ungleichbehandlung der Kinder in nichtehelichen Stiefkindfamilien gegenüber Kindern in ehelichen Stiefkindfamilien sei kein ausreichender Grund gegeben. Es sei ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen. Dass derzeit nichteheliche Stiefelternteile die Kinder des rechtlichen Elternteils nicht adoptieren kann, ohne dass die Verwandtschaft der Kinder zu diesem erlischt, verfolge zwar den legitimen Zweck, dass ein Kind unter unzulänglichen familiären Bindungen aufwachsen muss. Der vollständige Ausschluss der Stiefkindadoption in diesen Konstellationen sei hingegen kein angemessenes Mittel zur Erreichung dieses Zwecks. Ein milderes Mittel bestehe darin, eine Stiefkindadoption zu ermöglichen, wenn die Beziehung der Eltern Stabilität verspreche.

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die angegriffenen Gerichtsentscheidungen und die zugrundeliegenden Vorschriften für verfassungswidrig. Es gibt dem Gesetzgeber bis zum 31.03.2020 Zeit, eine Neuregelung zu treffen. Bis zur Neuregelung müssen Verfahren mit dieser Konstellation ausgesetzt werden.

Praxishinweis | BVerfG 1 BvR 673/17

Offen bleibt, welche gesetzliche Neuregelungen getroffen werden. Denkbar ist das Anknüpfen an eine gewisse Dauer der Beziehung ebenso oder die Regelung einer Einzelfallprüfung durch das Familiengericht.

Geht man von den Wertungen des BVerfG aus, könnte das Adoptionsrecht auch in anderen Konstellationen gleichheitswidrig und daher verfassungswidrig sein. So ist z.B. für faktische Lebensgemeinschaften, also nicht verheiratete Paare, eine Adoption ihrer langjährigen Pflegekinder bisher nicht möglich. In weiser Voraussicht sollte der Gesetzgeber alle Formen einer verfassungswidrigen Diskriminierung von Kindern, die in faktischen Familien leben, beseitigen.