LG Berlin 20 O 172/15
Rechtsnachfolge beim digitalen Nachlass

23.03.2016

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

LG Berlin
17.12.2015
20 O 172/15
BeckRS 2015, 20953

Leitsatz | LG Berlin 20 O 172/15

Der Erbe, der zugleich Sorgeberechtigter eines 15-jährigen Kindes war, ist berechtigt, den Zugang zu dessen Netzwerk-Account zu fordern. Weder Vorschriften des Datenschutzes noch Persönlichkeitsrechte Dritter stehen dem entgegen.

Sachverhalt | LG Berlin 20 O 172/15

Die Klägerin ist Mutter und Erbin der im Alter von 15 Jahren verstorbenen Nut-zerin eines Facebook-Kontos. Das Profil der Nutzerin ist noch sichtbar; auf das Benutzerkonto kann jedoch nicht mehr zugegriffen werden, da es entsprechend der Nutzungsbedingungen von Facebook in einen „Gedenkzustand“ versetzt wurde. Die Klägerin verlangt Zugriff auf den Netzwerk-Account.

Entscheidung | LG Berlin 20 O 172/15

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, da die Klägerin als Gesamtrechts-nachfolgerin vollumfänglich in die Rechtsstellung der Erblasserin und damit auch in den Nutzervertrag mit der Beklagten eingetreten ist.

Unerheblich ist in der Hinsicht, dass die Erblasserin der Beklagten keine Entgelt für die Inanspruchnahme der Leistungen schuldete, da eine Differenzierung zwi-schen übergangsfähigen vermögensrechtlichen Bestandteilen und nicht der Erb-folge unterliegenden nicht-vermögensrechtlichen Bestandteilen des digitalen Nachlasses schon deswegen abzulehnen ist, weil eine Abgrenzung praktisch nicht durchführbar ist. Im Übrigen zeigen § 2047 Abs. 2 BGB und 2373 Satz 2 BGB, dass auch Gegenstände, denen kein wirtschaftlicher Vermögenswert zukommt, grundsätzlich der Gesamtrechtsnachfolge unterliegen.

Der höchstpersönliche Charakters des Nutzungsverhältnisses hindert den Rechtsübergang ebenfalls nicht. Zwar kann die Vererbbarkeit eines schuldrechtlichen Verhältnisses analog § 399 Alt. 1 BGB ausgeschlossen sein, wenn es in einem solchem Maße auf die Parteien zugeschnitten ist, dass ein Subjektwechsel den Inhalt der Leistungspflichten ändern würde. Doch ist dies bei einem Facebook-Nutzervertrag nicht der Fall, da bei Vertragsschluss keine nähere Prüfung des Nutzers erfolgt und dessen Identität auch im laufenden Betrieb nur ausnahmsweise kontrolliert wird. Die Nutzer nehmen insoweit bei der Beklagten kein persönliches Vertrauen in Anspruch, sodass diese sich nicht auf Geheimhaltungsinteressen oder eine Schweigepflicht berufen kann. Insbesondere verfängt der von der Beklagten geltend gemachte Vergleich mit der Einsichtnahme in Krankenakten nicht, da schon § 203 StGB, der nur im letztgenannten Fall greift, zeigt, dass beide Konstellationen wertmäßig nicht auf einer Stufe stehen.

Die Unvererbbarkeit des Nutzerkontos wurde auch nicht vertraglich vereinbart. Die Nutzungsbedingungen der Beklagten sehen zwar vor, dass Nutzer Dritten keinen Zugang zu ihren Accounts verschaffen dürfen. Doch dient dies nur der Kontosicherheit, die bei Übergang des Zugangsrechts im Rahmen der Erbfolge nicht berührt wird.

Das postmortale Persönlichkeitsrecht der Erblasserin hindert den Rechtsübergang ebenfalls nicht. Dessen Verletzung ist nämlich schon deswegen nicht zu befürchten, weil die erziehungsberechtigte Klägerin Sachwalterin des Persönlichkeitsrechts der Erblasserin ist. Dies gilt jedenfalls für Kinder, die sich in einem Alter an der Grenze zur Einsichtsfähigkeit befinden, da die Sorgeberechtigten insoweit legitimiert sind, sich Kenntnis über deren Internetkommunikation zu verschaffen.

Bedenken gegen die Gesamtrechtsnachfolge ergeben sich auch nicht aus dem Fernmeldegeheimnis, da die Herausgabe von Inhalten an den Erben aufgrund der diesbezüglichen erbrechtlichen Verpflichtung noch unter das „für die geschäftsmäßige Erbringung der Telekommunikationsdienste erforderliche Maß“ i. S. d. § 88 Abs. 3 Satz 1 TKG fällt.

Datenschutzrechtliche Einwände greifen schließlich ebenfalls nicht durch, da die Regelungen des BDSG keinen Schutz hinsichtlich der Daten Verstorbener gewähren und soweit die Daten Dritter betroffen sind im Wege der praktischen Konkordanz hinter dem erbrechtlichen Befund zurückstehen müssen.

Die Klägerin tritt im Wege der Universalsukzession so in den Nutzervertrag ein, wie er von der Erblasserin geschlossen wurde. Gleichwohl kann sich die Beklagte nicht auf die Nutzungsbedingungen hinsichtlich des „Gedenkzustands“ berufen. Denn die betreffende Regelung benachteiligt durch die pauschale Beschränkung der Rechtsfolge des § 1922 BGB die Nutzer und ihre Erben unangemessen und ist daher nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Insbesondere hat der Erbe keine Möglichkeit, den „Gedenkzustand“ im Einzelfall wieder aufzuheben, sodass dessen Einrichtung einem Untergang des zum Nachlass gehörenden Accounts gleichsteht.

Praxishinweis | LG Berlin 20 O 172/15

Erstmals musste sich ein deutsches Gericht mit Grundsatzfragen zur Vererbbar-keit des digitalen Nachlasses auseinandersetzen.

Dieser soll nach Ansicht des LG Berlin im Grundsatz vollumfänglich der Erbfol-ge unterliegen, ohne dass nach vermögensrechtlichen oder nicht-vermögensrechtlichen Bestandteilen zu unterscheiden wäre. Offen lässt das Ge-richt unter welchen Umständen das postmortale Persönlichkeitsrechts des Erblassers einem Rechtsübergang entgegenstehen kann. Jedenfalls bei Minderjährigen unter 16 Jahren können sich die Sorgeberechtigten aber insoweit auf ihre Stellung als Sachwalter des Persönlichkeitsrechts ihrer Kinder berufen.

Für die Praxis sollte das Urteil Anlass dazu sein, sich über Vorsorgemaßnahmen bezüglich des digitalen Nachlasses Gedanken zu machen. Insbesondere ist es empfehlenswert, die konkrete Abwicklung der bestehenden digitalen Verknüp-fungen mittels Vorsorgevollmacht oder Testament zu regeln