BGH XII ZR 99/10
Eheschließung mit an Demenz erkranktem Partner

21.09.2012

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
11.04.2012
XII ZR 99/10
NJW-RR 2012, 897

Leitsatz | BGH XII ZR 99/10

1. Wenn eine Verwaltungsbehörde ein Eheaufhebungsverfahren beantragt, dann ist vom Gericht eigenständig zu prüfen, ob eine Aufrechterhaltung der Ehe geboten erscheint, wenn die Aufhebung der Ehe für die Eheleute oder die Kinder eine schwere Härte darstellt. Ist dies der Fall, hat das Gericht den Antrag der Verwaltungsbehörde als unzulässig abzuweisen. (Leitsatz nicht amtlich)
2. Bei der Prüfung des Härtefalls ist das bestehende öffentliche Ordnungsinteresse gegen die privaten Interessen der Ehegatten und Kinder abzuwägen. Eine Aufhebung der Ehe ist jedenfalls dann nicht geboten, wenn das private Interesse dem öffentlichen Interesse deutlich überwiegt. (Leitsatz nicht amtlich)

Sachverhalt | BGH XII ZR 99/10

Der 1936 geborene Antragsgegner und die 14 Jahre jüngere Antragsgegnerin lebten seit ca. 1973 in einer Partnerschaft. Sie hatten zunächst getrennte Wohnungen. Im April 2003 wurde der Antragsgegner mit dem Verdacht auf Demenz vom Typ Alzheimer in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung einer Universitätsklinik untergebracht. Kurze Zeit später bestellte das Amtsgericht durch Beschluss die Antragsgegnerin zur Betreuerin des Antragsgegners. In ein von der Antragsgegnerin aus Mitteln des Antragsgegners erworbenes Wohnhaus zog der Antragsgegner am 03. Februar 2004, in welchem beide bis heute gemeinsam leben und die Antragsgegnerin den Pflegebedürftigen betreut.
Am 7. Februar 2004 fand eine standesamtliche Trauung im Schlafzimmer der späteren Eheleute statt, ein Jahr später folgte die kirchliche Trauung.
Die zuständige Verwaltungsbehörde beantragte auf Anregung einer Nichte des Antragsgegners die Aufhebung der geschlossenen Ehe und führte die Eheunfähigkeit des an Demenz von Typ Alzheimer erkrankten Antragsgegners als Begründung an.
Das Familiengericht hob nach Einholung eines Sachverständigengutachtens die Ehe auf, das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht stimmte dieser Entscheidung zu. Die Revision der Eheleute hatte schließlich beim BGH Erfolg.

Entscheidung | BGH XII ZR 99/10

Der BGH vertritt zunächst die Auffassung, dass das Eingreifen der Härteklausel des § 1316 Abs. III BGB vom Gericht eigenständig zu prüfen ist. Sei das Eingreifen eines Härtefalls zu bejahen, habe das Gericht den Antrag als unzulässig abzuweisen. Außerdem ist ein belastender Eingriff in die Ehe bereits gegeben, wenn eine sachliche Prüfung eines Eheaufhebungsgrundes gem. § 1304 BGB durchgeführt wird. Diese sei nur gerechtfertigt, wenn kein Härtefall vorliege, der die Aufrechterhaltung der Ehe als geboten erscheinen lässt. Diese Voraussetzungen einer schweren Härte i. S. von § 1316 Abs. III BGB bejaht der BGH im vorliegenden Fall.
Nach Ansicht des BGH besteht in Fällen des § 1304 BGB das vorrangige öffentliche Ordnungsinteresse an einer Eheaufhebung in der Wahrung der Eheschließungsfreiheit an sich, hierbei wird die Ehegeschäftsfähigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung vorausgesetzt. Personen, die an einer freien Willensbildung gehindert sind, sollen dadurch vor der Ehe „bewahrt“ werden. Weitere Ordnungsinteressen könnten bestehen, wenn die Eheschließung mit einem Geschäftsunfähigen mit dem Ziel bewirkt wird, eherechtliche Ansprüche zu begründen, von denen zumindest überwiegend der geschäftsfähige Ehepartner einen Nutzen zieht. Dieser Aspekt wird als nicht gegeben angesehen. Die Ehefrau profitiert zwar von der guten finanziellen Lage des Ehemannes, dennoch ist diesem Aspekt entgegenzuhalten, dass eine partnerschaftliche Verbundenheit bereits seit 40 Jahren besteht und die Ehefrau seit Ausbruch der Krankheit Pflegeleistungen mit Hingabe erbringt. Somit können für die Aufhebung der Ehe ausschließlich der Schutz der freien Willensbildung bzw. Wahrung der Eheschließungsfreiheit angeführt werden.
Dem beschriebenen Ordnungsinteresse stehen nach Ansicht des BGH gravierende Eheerhaltungsinteressen der Ehegatten gegenüber. „Diese langjährige Aufopferung ist typischer Ausdruck gelebter ehelicher Solidarität in Verantwortungsgemeinschaft füreinander (§ 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB). Die Antragsgegnerin, die im Hinblick auf ihre Pflegetätigkeit nach wie vor keiner eigenen Erwerbstätigkeit nachgeht, bekennt sich auch weiterhin zu dieser Gemeinschaft und zu der Ehe. Durch eine Eheaufhebung würde der langjährig gewachsenen Lebensgemeinschaft der Antragsgegner die rechtliche und gesellschaftliche Grundlage entzogen. […] Hinzu kommt, dass die Standesbeamtin über die besonderen Umstände und mögliche Bedenken gegen die Ehegeschäftsfähigkeit des Antragsgegners informiert war und die Antragsgegnerin eine spätere Aufhebung der Ehe somit nicht befürchten musste. Bei diesen Gegebenheiten stellte die Aufhebung der Ehe für beide Ehegatten eine so schwere Härte dar, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint“.

Praxishinweis | BGH XII ZR 99/10

Da die Bevölkerung immer älter wird, könnten Fälle wie der vorliegende vermehrt vorkommen. Dem Urteil ist somit eine hohe Bedeutsamkeit zuzurechnen.
Ein Konflikt zwischen Angehörigen einer pflegebedürftigen Person und einer Pflegekraft scheint naheliegend, wenn es dieser gelingt, eine Eheschließung mit einer nicht mehr zurechnungsfähigen Person zu bewirken und den damit einhergehenden Genusses des gesetzlichen Ehegattenerbrechts. Deutlich erkennbar ist hierbei die Gefahr des Missbrauchs. In diesem Zusammenhang ist besonders darauf hinzuweisen, dass sich der Einwilligungsvorbehalt zu Gunsten eines Betreuers nicht auf Willenserklärungen, die auf Eingehung einer Ehe gerichtet sind, erstreckt, § 1903 Abs. 2 BGB.