Das Behindertentestament

I. Einführung

Um den behinderten Angehörigen zu schützen, wurde neben der Vor- und Nacherbenlösung die sogenannte Vermächtnislösung entwickelt. Das Vermächtnis ist nach diesem Modell als Vorvermächtnis ausgestaltet, das mit dem Tod des Behinderten an den/die Vermächtnisnehmer fällt, wobei der Erwerb von Todes wegen des Behinderten unter Dauertestamentsvollstreckung gestellt wird (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (457); Weidlich, ZEV 2020, 136 (136)).

 

II. Rechtliche Einordnung und Gestaltung

1. Kritik an dem Vermächtnismodell

Ein Kritikpunkt dieses Vermächtnismodells ist, dass bisher keine konkrete höchstrichterliche Rechtsprechung dazu existiert. Demgegenüber ist jedoch bereits gesichert, dass, solange der Vermächtnisanspruch mindestens in der gleichen Höhe wie der Pflichtteilsanspruch liegt, auch der gesetzliche Vertreter des Behinderten die Ausschlagung nicht erklären darf (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (457)).

Ein weiteres Problem liegt im Rahmen des Rangverhältnisses der Kostenersatzpflicht des Erben (§ 102 SGB XII) und dem schuldrechtlichen Anspruch des Nachvermächtnisnehmers auf Erfüllung (§§ 2191 I, 2174 BGB), da der Anspruch des Nachvermächtnisnehmers auf Erfüllung beim Tod des Vorvermächtnisnehmers in den aufgrund der Ansprüche des Sozialleistungsträgers überschuldeten Nachlass fällt. Dies führt dazu, dass, bei vorrangiger Bedienung der Ansprüche auf Kostenerstattung vom Erben, der Erwerb von Todes wegen spätestens beim Tod des Behinderten dem Zugriff des Sozialleistungsträgers unterliegt (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (457); Weidlich, ZEV 2020, 136 (141)).

Nach einer Mindermeinung stehen die beiden Forderungen gleichrangig nebeneinander (vgl. Damrau, ZEV 1998, 1 (3)). Die herrschende Meinung vertritt demgegenüber die Ansicht, dass der Sozialleistungsträger keine Zugriffsmöglichkeit hat, da im Rahmen des § 102 SGB XII zwischen Erblasser- und Erbfallschuld unterschieden werden muss. Bereits der Wortlaut des § 102 SGB XII macht deutlich, dass der Nachvermächtnisanspruch vorrangig ist und diese auf den Zeitpunkt des Erbfalls abstellt (vgl. u.a. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (457) m.w.N.; Baltzer, ZEV 2008, 116 (119)). 

   

2. Rechtliche Ausgestaltung des Vorvermächtnisses

Das Vorvermächtnis, das der behinderte Angehörige erhält, muss mindestens der Höhe seines Pflichtteils entsprechen, sodass er weder Gesamtrechtsnachfolger (§ 1922 BGB) noch Mitglied einer Erbengemeinschaft wird. Vielmehr erhält er einen schuldrechtlichen Anspruch gegen den Nachlass auf Erfüllung des Vermächtnisses (§§ 2147 S. 1, 2174 BGB). Das Nachvermächtnis fällt mit dem Tod des Vorvermächtnisnehmers an (§ 2191 BGB). Im Anschluss besteht die Möglichkeit zur Ausschlagung (§ 2307 I 1 BGB) oder Annahme des Vermächtnisses. Schlägt der Vermächtnisnehmer aus, kann er den Pflichtteil verlangen. Nimmt er an, erhält er den Pflichtteil in Höhe des Anspruchs, der hinter seinem Vermächtnis zurückbleibt (§ 2307 I 2 BGB). In der zweiten Konstellation entsteht ein Pflichtteilsrestanspruch, der auf den Sozialleistungsträger übergeleitet werden kann (§ 93 I SGB XII).

In jedem Fall muss dabei beachtet werden, dass das Vermächtnis zum Wohl des Behinderten ausgestaltet ist und mindestens der Pflichtteil erreicht wird, bei möglichen Pflichtteilergänzungsansprüchen ist ein Quotenvermächtnis i.H.v. 110 % des Gesamtpflichtteils empfehlenswert (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (458) m.w.N.).

Durch den Tod des behinderten Vorvermächtnisnehmers (Eintritt Nachvermächtnisfall) erwirbt der Nachvermächtnisnehmer einen schuldrechtlichen Anspruch auf Erfüllung gegen die Erben des Vorvermächtnisnehmers (§§ 2191 I, 2174, 1922 BGB). Dabei hat Nachvermächtnisnehmer beispielsweise keine Möglichkeit zur Verfügungsbeschränkung, mithin ist seine Rechtsposition nicht so stark wie die eines Erben ausgestaltet (vgl. Scherer/Schlitt, Anwaltshandbuch Erbrecht, § 13 Rn. 224). 

Um zu verhindern, dass diese Konstruktion des Behindertentestaments aufgrund eines ersatzlosen Wegfalls scheitert, ist die ausdrückliche letztwillige Benennung von Ersatzvermächtnisnehmern ratsam (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (458) m.w.N.).

Um zu verhindern, dass die Zuwendung durch Vermächtnis an einen Behinderten gemessen am Gesamtnachlass später zu niedrig ist, ist kein fixer Geldbetrag, sondern vielmehr ein liquides Quotenvermächtnis anzuordnen. Dies führt dazu, dass der Behinderte einen quotalen Anteil am Nachlass erhält, der mindestens seiner Pflichtteilsquote entspricht (vgl. u.a. Krauß, Vermögensnachfolge, Kapitel 14 Rn. 6473)).  

Daneben besteht die Möglichkeit, das Vermächtnis als sogenanntes Wohnungsvermächtnis auszugestalten, um dem Behinderten eine bekannte und häusliche Umgebung zu sichern. Vorteile dabei sind, dass es unpfändbar ist, nicht auf Sozialleistungsträger übertragen werden kann und grundsätzlich höchstpersönlich ausgeübt werden muss. Auch hier muss mindestens die Grenze des Gesamtpflichtteils erreicht werden, ggf. durch Kombination mit einem liquiden Quotenvermächtnis (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (458); Horn/Bienert, Anwaltsformulare Testamente, § 21 Rn. 60).

Bei kleineren und mittleren Nachlässen wird zudem das sogenannte Leibrentenvermächtnis vorgeschlagen, nach dem der Behinderte eine aus dem Nachlass zu zahlende, lebenslange monatliche Rente erhält, wobei wiederum der Gesamtpflichtteil als Minimum anzusetzen ist. Diese Vermächtnisform wird über §§ 2211, 2214 BGB geschützt. Zudem kann der Sozialleistungsträger nicht darauf zugreifen (vgl. Spall, MittBayNot 2001, 249 (254)).

Zu Regelungen der Fälligkeit eines Vermächtnisses unter einer aufschiebenden Bedingung gibt es bisher keine höchstrichterliche Rechtsprechung, sodass hiervon abzuraten ist.

In Bezug auf die Testamentsvollstreckung ist zu beachten, dass eine Kombination der Vermächtnis- und Verwaltungsvollstreckung erfolgt und diese auf den Nachvermächtnisnehmer ausgedehnt wird, sodass die Gläubiger des Vorvermächtnisnehmers (insb. Sozialleistungsträger) keinen Zugriff auf den Nachlass haben (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (459) m.w.N.).


3. Weitere Gestaltungsmöglichkeiten

Alternativen zur Vermächtnislösung sind die umgekehrte Vermächtnislösung, die Kombinationslösung, die Trennungslösung sowie die befreite Vorerbschaft.

Nach der umgekehrten Vermächtnislösung erfolgt die Einsetzung des behinderten Angehörigen als nicht befreiter alleiniger Vorerbe, die weichenden Angehörigen werden Nacherben des behinderten Vorerben (vgl. Grziwotz, ZEV 2002, 409 (409 ff.). Vorteile dieses Modells sind, dass keine Abwicklungsschwierigkeiten durch eine fremdbestimmte Erbengemeinschaft entstehen könne. Demgegenüber ist jedoch ein großer Nachteil neben weiteren Nachteilen dieser Lösung ist, dass die Zusammensetzung des späteren Nachlasses zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung sehr schwierig ist, mithin ein Prognoserisiko besteht (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (459) m.w.N.; Ruby/Schindler, Behindertentestament, S. 117 Rn. 189).

Die Kombinationslösung stellt auf eine Kombination des Vermächtnis- und des Vor. und Nacherbenmodells, d.h. im ersten Erbfall wird die reine Vermächtnislösung angewandt, im zweiten die Vor- und Nacherbenlösung (vgl. Horn/Bienert, Anwaltsformulare Testamente, § 21 Rn. 62). Neben dem Vorteil der Vermeidung von Abwicklungsschwierigkeiten des Ehegatten, besteht jedoch auch hier der Nachteil, dass es dazu noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung gibt (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (460) m.w.N.).

Nach der Trennungslösung (sog. Vor- und Nacherbfolge)  setzen sich die Ehegatten gegenseitig zu Vorerben ein und berufen das behinderte Kind zu ihrem jeweiligen Nacherben. Das behinderte Kind wird zugleich als Ersatzerbe des Überlebenden eingesetzt (vgl. Litzenburger, RNotZ 2004, 138 (144 f.)). Vorteil ist, dass bei dem ersten Erbfall eine Erbengemeinschaft vermieden wird. Nachteilig ist demgegenüber, dass dem Behinderten nach dem ersten Erbfall nur ein Nacherbenanwartschaftsrecht zusteht (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (460) m.w.N.).

Die befreite Vorerbschaft stellt darauf ab, das behinderte Kind zum befreiten Vorerben gem. § 2136 BGB einzusetzen (vgl. Spall, ZEV 2017, 26 (28)). Problematisch ist hierbei, dass eine Überleitungsmöglichkeit dadurch entstehen kann, dass von dem befreiten Vorerben/seinem gesetzlichen Vertreter durch den Testamentsvollstrecker Mittelfreigabe nach § 2217 I BGB verlangt wird (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (460) m.w.N.; Ruby/Schindler, Behindertentestament, S. 40 Rn. 53).

Neben diesen Lösungsmodellen besteht die Möglichkeit, die aufgeführten Nachteile zu umgehen, indem bereits zu Lebzeiten ein Pflichtteilsverzicht erklärt wird oder eine lebzeitige Übertragung erfolgt. 

Nach der ersten Möglichkeit würde der Pflichtteilsanspruch bereits gar nicht entstehen (§ 2347 I BGB). Dieses Vorgehen hat der BGH 2011 auch als zulässig erklärt (BGH, MittBayNot 2012, 138 (139)). Soweit der behinderte Angehörige jedoch nicht geschäftsfähig ist, können hier weitere Probleme entstehen, da unter anderem ggf. eine gerichtliche Genehmigung eingeholt werden müsste. Die Vorteile einer lebzeitigen Übertragung liegen demgegenüber in einer steueroptimierten Vermögensnachfolgeplanung, insbesondere in Bezug auf die Schenkungsteuerfreibeträge (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (461) m.w.N.).


4. Verhältnis zum Nachrangigkeitsprinzip

Es stellt sich die Frage, ob Behindertentestamente sittenwidrig sind, da sie Nachteile für die Sozialleistungsträger mit sich bringen, da die Allgemeinheit mit staatlichen Leistungen für einen sonst liquiden Erben/Vermächtnisnehmer aufkommen muss und dies dem sozialrechtlichen Nachrangigkeitsprinzip aus § 2 SGB XII widerspricht. Das Prinzip besagt, dass dem Hilfesuchenden erst dann staatliche Leistungen gewährt werden dürfen, wenn der Hilfesuchende nicht selbst für sich aufkommen kann. Der BGH hat mehrmals entschieden, dass Behindertentestamente nicht sittenwidrig sind, da sie der Verbesserung der Lebensstellung des Behinderten dienen, Ausfluss der Testierfreiheit sind (Art. 14 I GG) und die Nachteile somit als bloße Reflexe dieser Gestaltung hinzunehmen sind (zuletzt BGH, NJW 2020, 58 (59); vgl. dazu auch Heckschen, in: Burandt/Rojahn, ErbR, BGB, § 2209 BGB Rn. 2 ff.).

Nach dem Nachrangigkeitsprinzip erhält der Bedürftige erst staatliche Hilfe, nachdem er sein Einkommen und sein gesamtes verwertbares Vermögen eingesetzt hat. Die herrschende Meinung und die Rechtsprechung (BVerwG, NJW 1999, 3649) zählen zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert, die im Bedarfszeitraum zufließen, d.h. soweit dem Bedürftigen eine Erbschaft/ein Vermächtnis anfällt, während er bereits staatliche Leistungen erhält, zählt der Erwerb von Todes wegen zu seinem Einkommen und muss verwertet werden. Ansprüche des Hilfeempfängers kann der Sozialleistungsträger in diesem Fall auf sich überleiten (§ 93 SGB XII) (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (462 f.) m.w.N.).

Soweit der behinderte Hilfeempfänger verstirbt, kann der Sozialleistungsträger von dessen Erben Kostenersatz für die erbrachten Leistungen verlangen (§ 102 SGB XII), wobei dies begrenzt ist auf die Leistungen der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall.


5. Anwendung des Behindertentestaments in der Praxis

Eine Vermächtnislösung ist insbesondere in den Fällen zu raten, in denen es sich um einen sehr werthaltigen Nachlass handelt oder sich Betriebs- oder Gesellschaftsvermögen im Nachlass befindet. Überschreiten im Nachlass Vermögenswerte, die im Nachlass enthalten sind, die steuerlichen Erbschaftsteuerfreibetragsgrenzen, muss zusätzlich zur Gestaltungsfrage eine Modifizierung der Steuerklauseln, wie das sog. Steuervermächtnis, erfolgen (vgl. Roglmeier, ZErb 2021, 457 (465)).


III. Fazit

Mangels gesicherter Rechtsprechung ist die Lösung der Vor- und Nacherbschaft nach wie vor die rechtssicherste und somit vorzugswürdig. Dennoch stellt die Vermächtnislösung ein geeignetes Mittel dar, soweit beispielsweise eine Erbengemeinschaft unter Beteiligung des Behinderten vermieden werden soll. In jedem Fall sollte die Entscheidung nach der richtigen Gestaltung eines Behindertentestaments je nach Einzelfall und insbesondere anhand der Werthaltigkeit der Zusammensetzung des Nachlasses erfolgen.

Autor: Prof. Dr. Heribert Heckschen, Notar, Dresden

 

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